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Mit Weitblick schützen, statt für Einzelinteressen nutzen

Die Alpen sind ein letzter Hort für Wildnis, den es zu schützen gilt. Dafür braucht es Weitblick und eine übergeordnete Planung, damit nicht bald Solarparks und weitere Stauseen zu unserem Landschaftsverständnis der Alpen gehören.

Von Sebastian Moos

Als ich 2016 meine Stelle bei Mountain Wilderness Schweiz antrat, war der Ausbau des Themenbereichs Wildnis meine zentrale Aufgabe. In diesem Rahmen zeigten wir 2017 in Luzern den Film «Jumbo Wild», welcher vom Widerstand gegen den Bau eines Skiresorts in einem unerschlossenen Tal in Kanada handelt. In der nachfolgenden Diskussion ging es auch um Wildnis in der Schweiz. Ein Freund von mir sass im Publikum und fragte, was denn so schlimm an Seilbahnen und genutzten Alpweiden sei, zumal uns dieses Bild doch vertraut ist. Die Frage ist berechtigt. Grundsätzlich ist gegen Seilbahnen und Alpweiden nichts einzuwenden, es ist jedoch eine Frage des Masses. Wir sind uns mittlerweile zu sehr gewohnt, dass ein grosser Teil der Alpen erschlossen und genutzt ist. Kühe, Alpwiesen, Staumauern und Sessellifte sind für viele der Inbegriff der Alpen. Diese bieten aber noch viel mehr, beherbergen sie doch die letzten wilden Räume und das grösste Wildnispotenzial der Schweiz. Unter «Wildnis» versteht Mountain Wilderness Schweiz Räume ohne nennenswerte Infrastruktur und menschliche Einwirkung, wo sich die Natur frei entwickeln kann. In einer mit der Eidg. Forschungsanstalt WSL gemeinsam publizierten Studie zeigten wir 2019 auf, dass noch rund 17 Prozent der schweizerischen Landfläche als wild bezeichnet werden können. Diese Räume sind wenig erschlossen, naturnah, abgeschieden und topographisch rau. Im mitteleuropäischen Vergleich ist das viel – und es belegt die grosse Verantwortung, die wir dafür tragen.

Wildnis in die Alltagswelt holen

Wenn wir uns diese 17 Prozent genauer anschauen wird schnell klar, weshalb Seilbahnen und Alpweiden das Alpenbild vieler Schweizer:innen prägen. Ein Grossteil der 17 Prozent liegt im Hochgebirge, vornehmlich da, wo sich Fels und Eis einsam türmen. Die wilden Eisriesen sind aufgrund ihrer technischen Herausforderungen relativ wenigen Menschen vorbehalten, was gerade ihre Faszination ausmacht. Diese Form von Wildnis allein reicht jedoch nicht. Wir brauchen dort mehr Wildnis, wo sie sich in ihrer ganzen lebendigen Kraft entfalten kann: im Mittelland, im Jura und in den Voralpen. Damit nicht genug; wir sollten Wildnis in unsere Alltagswelt holen. Wenn wir uns gewohnt sind, dass in einem gepflegten Garten sorgsam ausgejätet Rabatte an Rabatte liegen und für uns die Gleichung Wald = Fichtenforst gilt, verwundert die Mühe mit der vermeintlichen Unordnung von Wildnis nicht. Damit sich mehr Menschen um Wildnis kümmern und sich für sie begeistern, müssen sie Wildnis oder zumindest gewisse Aspekte davon selbst erfahren. Ich bin überzeugt, dass bereits kleine Wildnis-Erfahrungsräume in unseren Alltagswelten offenbaren können, was es bedeutet, wenn beispielsweise ein Baum sein volles Altersspektrum erleben und die Natur Natur sein darf. Für mich spielen hier Naturerlebnispärke wie der neu eröffnete Parc naturel du Jorat ob Lausanne eine wichtige Rolle, zumal sich in ihren Kernzonen die Natur frei entwickelt. So klein diese Zonen auch sein mögen: Die Bevölkerung ganzer Agglomerationen kann dadurch miterleben, wie schnell aus einem einst intensiv genutzten Wald ein Paradies für Tiere, Pflanzen und Pilze entsteht.

Kleine Zeichen von Wildnis erkennen

Damit einher geht ein innerer Wandel im Wahrnehmen der übermenschlichen Natur. Mich hat hierbei der britische Autor Robert Macfarlane mit seinem sehr empfehlenswerten Buch «Karte der Wildnis» inspiriert. Auf der Suche nach den letzten wilden Räumen in Grossbritannien stieg er in die tiefsten Höhlen und auf die höchsten Berge, auch bei Nacht und Schnee. Als er zum Beispiel im Eissturm auf einem Berg biwakierte erlebte er, wie teilnahmslos sich Wildnis uns Menschen gegenüber zeigen kann. Ich kenne dieses Gefühl von Einsamkeit und Verzweiflung, das einen im Sturm ergreift. Diese unabänderliche Gleichgültigkeit, die einem entgegenschlägt. Gegen Ende seines Projekts interessierte sich Macfarlane immer mehr für die Zeichen von Wildnis in seiner nächsten Umgebung: den Fuchsbau in der Hecke hinter dem Haus oder den wilden Ehrgeiz, mit dem Löwenzahn im Asphalt wächst. Solche Naturerfahrungen und Reste von Wildnis sind zwar kein Ersatz für grossflächige Wildnisräume, welche letzte Refugien sind und mit ihrer Dimension Erfahrungen ganz anderer Tiefe ermöglichen. Wildnis im Alltag erleben kann unsere Wahrnehmung für das Wilde jedoch schärfen. Es hilft uns, eine andere Beziehung zur ursprünglichen Natur aufzubauen, indem wir ihr uns interessiert und wohlwollend zuwenden. Alltägliche Wildniserfahrungen machen uns bewusst, dass wir auf dieser Erde nicht allein wandeln, sondern Teil eines eng verwobenen Netzes sind. Eines der grössten Geschenke von Wildheit oder Wildnis ist für mich, dass sie zum Nachdenken anregt. Wir realisieren, dass alles mit allem verbunden ist und wir uns dem ewigen Sterben und Werden nicht entziehen können – so sehr wir uns das auch wünschen.

Blick auf den Naturerlebnispark Sihlwald

Rückzugsräume für die Natur

Wildnis ist nicht nur Erfahrungsraum für uns Menschen, sondern auch eine essenzielle Rückzugsmöglichkeit für viele Arten. Beim Naturschutz verhält es sich ähnlich wie bei der Infrastruktur in den Alpen. Wir sind uns zu sehr an die aktuellen Umstände gewohnt wie z. B. Naturschutz bedeutet, der Mensch denkt und lenkt. Als Zivildienstleistender habe ich selbst tausende von Neophyten ausgerissen. An der Uni lernten wir zwar die Faszination der grossen Naturschutzgebiete im globalen Süden kennen, auf Bergtouren betrachteten wir Grünerlengestrüpp jedoch mit Argwohn. Erst später wurde mir klar, dass einerseits Naturschutz in der Schweiz zu oft Kulturlandschutz bedeutet und anderseits die Qualität des Kulturlands für die Biodiversität häufig überschätzt wird. Natürlich müssen wir vielfältiges, naturnahes Kulturland unbedingt erhalten und fördern; es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Doch wir brauchen grossflächige Räume, in denen wir Natur der Natur übergeben und Dynamik zulassen. Solche Wildnisräume fördern Arten, die im Kulturland kaum mehr überleben können. Dazu gehören u. a. Pflanzen, welche nur an Standorten wachsen, die wiederholt von Naturereignissen wie Lawinen oder Überschwemmungen «gestört» werden.

Übergeordnete Strategien gesucht

Wildnis im Sinne des Schutzes natürlicher Prozesse sowie vor Verbauung ist in der Schweiz zwar ausdrücklich, aber nur auf einer kleinen Fläche geschützt. Es ist bisher nicht gelungen, einen zweiten Nationalpark gemäss den Regeln der Pärkeverordnung zu gründen. Die letzten beiden Projekte («Adula» und «Locarnese») scheiterten an der Ablehnung betroffener Gemeinden. Es sind neue Ideen gefragt, wie wir Wildnis langfristig schützen können. Einen möglichen Weg hat Catherine Duttweiler im Juli 2023 in ihrem lesenswerten Beitrag «Die Zukunft der Alpen» im «Das Magazin» aufgezeigt. Sie kommt darin zum Schluss: «Es braucht eine übergeordnete Strategie und eine Planung mit Weitblick, bevor die Alpen kopflos zugepflastert werden.» Dem kann ich nur zustimmen. Wir dürfen nicht überstürzt aufgrund von Einzelinteressen einen der grössten Schätze der Schweiz opfern. Der Erhalt von Wildnis liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse und kann nicht einzelnen Gemeinden überlassen werden. Wir haben ein Recht und eine Pflicht auf Mitsprache und Mitverantwortung, wenn es um den Schutz von Wildnis geht. Oder wie es Catherine Duttweiler treffend formuliert: «(…) die Alpen gehören uns allen.» Die Raumplanung könnte bei einer solchen Strategie eine führende Rolle übernehmen, indem sie mutig Zonen ausscheidet, die frei von Verbauung bleiben sollen.

Wildnis entsteht, Wildnis wird verbaut

Wie geht es weiter mit Wildnis in der Schweiz? Einerseits schreitet besonders in der Südschweiz die Nutzungsaufgabe sogenannter Grenzertragsflächen voran, was grosses Potenzial für freie Naturdynamik birgt. Das Tessin ist eine der faszinierendsten Regionen der Schweiz, um Wildnis zu erfahren. Hier holt sie sich langsam einst genutzte Gebiete zurück – sogenannte Sekundärwildnis. Anderseits ist der Druck auf wilde Räume durch die forcierte Energiewende aktuell so gross wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Solarparks wie «Gondosolar» drohen, bisher kaum erschlossene Räume zu industrialisieren. Staudämme wie auf der Trift oder dem Gornergletscher würden die Dynamik der durch den Gletscherschwund entstehenden Auen und Schwemmebenen für Jahrzehnte verhindern. Die sogenannten Gletschervorfelder, die sich durch den rapiden Rückgang der Gletscher bilden, sind äusserst vielfältige Lebensräume. Es ist neues Land, das entsteht. Wildnis, an die wir uns gewöhnen und die wir wertschätzen sollten.

© Marco Zanoni / Lunax

Über den Autor

Sebastian Moos war von 2016 bis September 2023 Projektleiter Wildnis bei Mountain Wilderness Schweiz. In dieser Funktion hat er den Diskurs zu Wildnis massgeblich mitgeprägt.

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