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«Wildnis nicht nur in Gedanken, sondern auf der Fläche zulassen»

Die Initiative «Wildnis in Deutschland» vertritt erfolgreich und prominent die Interessen der Wildnis. Manuel Schweiger hat als Wildnis-Referent bei der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt die Initiative aufgebaut. Im Gespräch mit dem Forum Wildnis Schweiz verrät er, wie er das geschafft hat.

Die Initiative «Wildnis in Deutschland» vertritt erfolgreich und prominent die Interessen der Wildnis. Manuel Schweiger hat als Wildnis-Referent bei der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt die Initiative aufgebaut. Im Gespräch mit dem Forum Wildnis Schweiz verrät er unter anderem, wie er das geschafft hat.

Forum Wildnis Schweiz: Unter dem Namen Initiative «Wildnis in Deutschland» setzen sich 20 Naturschutzorganisationen mit einer gemeinsamen Stimme für Wildnis ein. Wie hast du das geschafft?

M. Schweiger: (Lacht) Dass sich so viele Organisationen zusammengefunden haben zeigt, wie hoch die Wertschätzung für das Thema ist und wie wichtig das Anliegen ist, wieder mehr Wildnis zu schaffen. Wildnis bewegt offenbar die Menschen. Das kann auch mal zum Negativen sein, wenn man an Proteste gegen konkrete Schutzgebiete denkt. Aber in unseren Naturschutz affinen Kreisen hat es sehr geholfen, aus den Ansprechpartnern der deutschen Naturschutzorganisationen eine Gruppe zusammenzubringen, die wirklich aktiv vorangeht und andere mitzieht.

Ihr vereint in erster Linie Naturschutzorganisationen. Das Forum Wildnis Schweiz ist viel breiter aufgestellt. Wie habt ihr euch für diesen Fokus entschieden?

Die Gruppe ist aus einem bestehenden Netzwerk von Naturschutzorganisationen entstanden – das ist der entscheidende Grund. Dieses Netzwerk hat auch schon vorher politische Arbeit betrieben und hat sich dann quasi um den Bereich Wildnis erweitert. Weil das so erfolgreich war und noch weitere Partner hinzugekommen sind, hat man die Initiative «Wildnis in Deutschland» ausgekoppelt. Deswegen stand es gar nicht zur Debatte, als Partnerorganisationen auch wissenschaftliche Organisationen oder Privatpersonen aufzunehmen. Wir kooperieren jedoch sehr eng mit Forschungseinrichtungen, auch mit Behörden.

Ihr habt durchaus auch eine breitere Öffentlichkeit, die sich für das Thema interessiert.

Das Interesse in der breiten Öffentlichkeit ist da, doch sie ist nicht unsere primäre Zielgruppe. Für uns ist es wichtiger, Entscheidungsträger vom Wildnisansatz zu überzeugen. Solche, die zum Beispiel über die Nutzung von Flächen entscheiden. Wenn, dann ist die breite Öffentlichkeit für uns wichtig, um Druck auf Entscheidungstragende auszuüben. Wir überlegen uns jeweils ganz gezielt, was wir ändern möchten, wer das ändern kann und wie wir diese Personen dazu bringen, dies zu ändern. Die breite Öffentlichkeit ist immer der letzte Weg – es ist unglaublich aufwendig, Aufmerksamkeit zu bekommen. Das kostet viel Geld und Personal; und daran fehlt es ja meist im Naturschutz.

Daher spricht eure Plattform «Sagt es laut» gezielt zivilgesellschaftliche Initiativen an.

Das Engagement der Menschen vor Ort für die Natur ist ungemein wertvoll und glaubwürdig. Nur haben sie meist wenig Chancen gegen die viel einflussreicheren wirtschaftlichen Interessen in der Region. Ich habe deshalb lokale Bürgerinitiativen beraten, die sich gegründet haben, um sich für Schutzgebiete in ihrer Region einzusetzen. Es gibt Fehler, die solche Initiativen immer wieder machen, beispielsweise dass sie sich an den Gegnern abmühen und diese überzeugen wollen, anstatt sich auf potenzielle Unterstützende zu fokussieren.

Du hast jetzt ein paar Mal von «wir» gesprochen. Wie arbeitet ihr denn zusammen bei der Initiative?

Wir treffen uns alle zwei, drei Monate und besprechen aktuelle Themen. Ganz wichtig ist hier der Erfahrungsaustausch zwischen den Stiftungen, die sich um Wildnisgebiete kümmern. Je nach dem bilden wir auch kleinere Untergruppen für spezifische Fachfragen oder politische Arbeit. Das Ergebnis wird in der grossen Gruppe vorgeschlagen, diskutiert und abgesegnet. Braucht es einen Beschluss auf höherer Verbandsebene, sind wir über andere Gremien gut verknüpft und können so Themen schneller auf die Entscheidungsebene hieven. Es ziehen alle am selben Strang. Uns hilft dabei unser gemeinsames Verständnis von Wildnis und unsere 11 Positionen zu Wildnis. Die sind für uns gesetzt.

Ihr habt das Ziel von 2 Prozent Wildnis, ihr habt den Wildnisfonds – man bekommt das Gefühl, dass eure Initiative behördlich und politisch breit abgestützt ist. Würdest du das auch so unterschreiben?

Ja, zumindest im Naturschutz auf Bundesebene: Vom Bundesumweltministerium erfahren wir eine sehr gute Unterstützung. Vom Bundeslandwirtschaftsministerium, das auch den Bereich Forsten unter sich hat, wird offen gegen Wildnisentwicklungen gearbeitet. Auf Landesebene ist es ganz unterschiedlich. Da kann sich die Lage je nach politischer Konstellation schnell drehen.

Wie schaffen wir diese Unterstützung durch die Behörden auch in der Schweiz?

Ihr habt einen breiteren fachlichen Diskurs. Wir haben ganz schnell versucht, diesen abzuschliessen – was für uns Wildnisgebiete sind, was der Weg ist – und uns bald darauf fokussiert, Wildnis nicht nur in Gedanken, sondern auf der Fläche zuzulassen. Wir hatten auch ein bisschen Glück, dass Leute an bestimmten Positionen waren, die fürs Thema zugänglich waren. Wir waren für die Behörden und Entscheidungsträger aber auch immer ein verlässlicher Partner. Wir haben uns an Absprachen gehalten, schnell reagiert und mit einer Stimme gesprochen. Das kam gut an. Dadurch sind gegenseitiges Vertrauen und Wertschätzung gewachsen, von dem beide Seiten profitieren. Das ist sicherlich einmalig – auch im deutschen Naturschutz.

Ihr habt im Dezember die «Agenda für Wildnis» lanciert. Sie soll unter anderem «die notwendige Debatte für mehr Wildnis anregen». Was läuft da gerade?

Wir haben dieses Jahr voraussichtlich vier Landtagswahlen und eine Bundestagswahl in Deutschland. Wir zeigen in unserer Agenda ganz konkret auf, an welchen Stellschrauben man auch in anderen Ressorts drehen muss, um in der Fläche mehr Wildnis zu erreichen. Diese handfesten Forderungen versuchen wir auf den verschiedenen Ebenen in die Wahlprozesse einzubringen, damit wir am Ende des Jahres auch politische Beschlüsse dazu haben. Gerade werden Wahlprogramme von den Parteien geschrieben, die sich gerne daran bedienen dürfen – ebenso bei den darauffolgenden Koalitionsverhandlungen. Umso konkreter unsere Vorschläge sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie auch aufgegriffen werden. Vor allem, wenn sie von 20 Verbänden gleichzeitig gefordert werden.

Noch etwas Aktuelles: In der Schweiz gehen wegen der Pandemie mehr Menschen raus in die Natur, was sie auf der einen Seite für die Bedeutung von Naherholungsgebieten sensibilisiert. Auf der anderen Seite steigt der Druck auf die Natur. Wie ist die Situation bei euch?

Es ist im Prinzip genauso. Für die Schutzgebietsverwaltungen entstehen dadurch zum Teil grosse Herausforderungen, wie das hohe Besucheraufkommen so gelenkt werden kann, dass die Natur nicht darunter leidet. Vom Prinzip her ist es sehr erfreulich, dass die Menschen wieder mehr in die Natur gehen – das ist eine Riesenchance! Man muss die Aufmerksamkeit, welche die Schutzgebiete gerade erfahren, entsprechend nutzen und lenken; damit daraus etwas Positives entsteht; damit aus der Sensibilisierung eine Wertschätzung wird. Letztlich zeigt der Besucherdruck ja eines: Die Nationalparks und Schutzgebiete, die wir haben, sind nicht genug. Wir brauchen mehr!

Hast du noch einen Wunsch oder ein Anliegen, die du dem Forum Wildnis Schweiz mit auf den Weg geben möchtest?

Es ist toll zu sehen, dass auch bei euch eine Saat aufgeht. Ich durfte von Anfang an ein bisschen dabei sein und sehen, wie es sich entwickelt. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Ihr nehmt einen etwas anderen Weg als wir. Und das muss so sein, weil bei euch die Verhältnisse andere sind. Ihr seid auf jeden Fall breiter aufgestellt. Das kann euch noch helfen. Mein Wunsch ist, dass wir weiterhin in diesem offenen Austausch bleiben und voneinander lernen und uns unterstützen. Nicht nur in der Natur ist eine Vernetzung wichtig.

Dieses Gespräch wurde erstmals im Jahresrückblick 2020 des Forum Wildnis Schweiz publiziert.

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