Mountain Wilderness → News → Mit dem Velo durch die Bergwelt
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Mountain Wilderness: Welche Leidenschaft hast du zuerst entdeckt: Die für die Berge, oder die für das Fahrradfahren?
Claude Marthaler: Die beiden Leidenschaften stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern nähren sich gegenseitig. Eigentlich bin ich ein reiner Stadtmensch, aber schon als Kind nahmen meine Eltern meinen Bruder und mich mit in die Berge zum Wandern, Schwimmen und Skifahren. Später habe ich mich bei den Pfadfindern engagiert. Das Reisen kam in der Pubertät, als ich mit dem Fahrrad meine ersten Ausflüge unternahm. Die Begegnung mit älteren Reisenden und das Verschlingen von Reiseberichten taten ihr Übriges.
Wie bist du dazu gekommen, tausende Kilometer in die Pedale zu treten, um ein Bergmassiv zu erreichen?
Nicht nur, um deren Fuss zu erreichen, sondern um sie mehrere Monate lang am Stück zu durchqueren. Eine Erfahrung, bei der man sich selbst vergisst. Sie vermittelt ein ozeanisches Gefühl, eine außergewöhnliche innere und kosmische Einheit. Das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, sich selbst im Innersten zu sein, intensiv vitalisiert – wie eine neue Kindheit am Beginn der Welt – wird durch die ständige Anstrengung auf die Spitze getrieben. Eine echte Entblössung. Die Berge sind noch einige der letzten Wildnisgebiete, ein Hort der Freiheit und der Fantasie.
Was ist das Besondere daran, wenn man aus eigener Muskelkraft einen Berg erklimmt?
Diese Vorgehensweise bringt eine sehr große Freude mit sich, die manchmal bis zur Ekstase reicht, das Gefühl, diskret von einem Ort adoptiert worden zu sein, ohne zu stören. Es ist etwas Primitives, das unter die Haut geht. Auf dem Fahrrad fühle ich mich immer in Resonanz mit der Welt: in der Stadt, überall, aber noch mehr in einer alpinen oder Himalaya-Umgebung.
Du warst überall auf der Welt. Gibt es einen Berg, zu dem du eine besondere Verbindung hast?
Ja, der Berg Kailash, seine majestätische Silhouette ist von atemberaubender Schönheit, umso mehr nach dreieinhalb Wochen schlechter Piste zwischen 4 und über 5.000 Metern Höhe, wobei ich abwechselnd in die Pedale trat und wanderte. Für mich war er die Erfüllung eines Traums, ein ästhetischer Schock und eine Offenbarung, aber auch eine Feuerprobe und eine Pilgerfahrt zu meinem Bruder, der 1979 in einem Abgrund in Papua/Neuguinea ertrunken war. Sein Verschwinden war eines der einschneidenden Ereignisse in meinem Leben. Von da an wurde er zu meinem Schutzengel, der auf meinem Gepäckträger saß und dem ich die Welt zeigte.
2006 fuhr ich erneut mit dem Fahrrad zum Berg Kailash. Bis heute ist dieser magische Berg das glühende und magnetische Epizentrum meiner inneren Geographie geblieben.
In deinem Buch «Voyages sellestes» berichtet du von Expeditionen nach Tadschikistan, Osttibet und durch die Rocky Mountains. Was war auf diesen Reisen speziell?
Man sagt, dass sich nur Berge nie begegnen, aber das Schreiben hat sie schließlich in einem Band zusammengeführt. In der Tat standen sie immer im Mittelpunkt, sowohl bei all meinen Reisen als auch, im Hintergrund, bei all meinen Erzählungen.
In diesem Buch war die Durchquerung des Pamirs eine grundlegende Erfahrung mit meiner jetzigen Partnerin, die Möglichkeit, an den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm teilzunehmen, in Afghanistan in die Pedale zu treten und nach Zentralasien, einer meiner Lieblingsregionen, zurückzukehren. Osttibet war eine letzte, traurige Reise in diese Region, die von der Unterdrückung der Tibeter und der zügellosen chinesischen Ausbeutung gezeichnet ist, eine Situation, die sich in meinen Augen seit 1995 schrecklich verschlimmert hat. Die Rocky Mountains boten mir die Gelegenheit, die amerikanische Wildnis zu erkunden, die ich bereits ein wenig kannte, und ermöglichten mir ein Wiedersehen mit einigen amerikanischen Freunden nach zwanzig Jahren.
Die spätere Idee, drei Radreisen in einem Buch zusammenzufassen, und das durch einen Verlag, der sich auf Berichte und Monografien von Bergsteigern spezialisiert hat, war eine echte Chance, ein anderes Publikum als nur Radreisende zu erreichen.
Hast du einen Rat für all diejenige, die mit dem Velo die Welt bereisen wollen?
Ich werde ihnen nur ein Wort sagen: Geh! Das Leben ist so kurz! Ich würde sie gerne zu einem Tchaï einladen, eine Mahlzeit mit ihnen teilen und sie ermutigen, nur ihren eigenen Weg zu gehen, auf ihren Bauch und ihr Herz zu hören und nicht auf ihren Kopf.
Du bist dabei, mit deiner Partnerin in Südfrankreich in einem Landhaus eine Herberge einzurichten. Hat die Stunde der Sesshaftigkeit geschlagen?
Das ist eine zentrale Frage in meinem kurzen Leben als Mensch, die mich immer mehr beschäftigt und auf die ich noch keine schmerzlose und endgültige Antwort finden kann. Werde ich mich nun mehr und mehr damit begnügen müssen, einen inneren, metaphorischen, kulturellen oder literarischen Berg zu besteigen? Die Zukunft wird es zeigen. Auf jeden Fall ist dies ein großer Wendepunkt in meinem Leben. Ich möchte vor allem weiterhin das Leben in vollen Zügen geniessen, weiterhin reisen und schreiben (…).
Claude Marthaler wurde 1960 in Genf geboren. Der leidenschaftliche Radfahrer fuhr 16 Jahre lang mit dem Velo um die Welt, darunter eine 7-jährige Welttournee (1994 bis 2001, 122‘000 km, 60 Länder). Er ist Autor von elf Büchern, zwei digitalen Diashows und Co-Regisseur des Dokumentarfilms «Bike for bread». Ihm wurden zwei Fernsehdokumentationen gewidmet: «La fin du voyage» und «Claude Marthaler, embrasser la terre». Zusammen mit anderen enthusiastischen Menschen gründete er das Schweizer Festival für Radfahrende «Festivélo». In seinem neuesten Buch «L’appel du volcan» (2021) berichtet er von der Besteigung des Ojos del Salado in Chile und der Teilnahme an einem Versuch am Cho-Oyu, um sein innerstes Wesen zu erforschen.
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