Tim Marklowski: Die Aussicht von deinem Balkon auf den Mt. Collon ist unglaublich. Bist du deshalb ins Wallis übergesiedelt?
Werner Munter: Ich komme eigentlich aus dem Berner Mittelland. Der Grund, warum ich in Arolla gelandet bin, ist ziemlich pragmatisch. Meine mittlerweile verstorbene Ehefrau war sehr krank und fühlte sich ausschliesslich oberhalb von 2000m und umgeben von Granit wohl. Arolla bietet genau das und noch viel mehr. Wir kauften die Wohnung und blieben einfach hier. Der Ort ist magisch, eine solche Energie gibt es nicht überall.
Tönt esoterisch. Was meinst du damit?
Ich und viele andere Leute spüren hier eine besondere Kraft, etwas, das einen aufbaut. Ein Tal weiter drüben, im Val d’Anniviers zum Beispiel, spüre ich das nicht. Es ist übrigens auch kein Zufall, dass die Baumgrenze hier so hoch liegt. Die Erde hat hier eine besondere Energie.
Spannend. Würdest du dich als spirituell bezeichnen?
Absolut! Ich bin Atheist, aber Spiritualität spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben. Berge sind heilige Orte, natürliche Kathedralen, denen wir mit dem notwendigen Respekt begegnen sollten. Wir sollten dort möglichst wenig verändern. Das Beste, was diese Kraftorte zu bieten haben ist doch ohnehin die absolute Stille und Reizarmut. Wenn es so ruhig ist, dass du nur das Blut in deinen Ohren rauschen hörst, das ist doch das Grösste.
Stichwort Veränderung der Landschaft. Damit beschäftigen wir uns bei Mountain Wilderness täglich. Zum Beispiel hat die Graubündner Kantonalbank zu ihrem 150. Jubiläum Werbetafeln mit QR-Code auf 150 Bündner Gipfeln installiert. Die Tafeln sind fest im Fels verankert, 60 cm hoch und 15 cm breit. Wir haben uns mit einer Petition dagegen gewehrt und erwägen nun rechtliche Schritte. Übertrieben?
Im Gegenteil, noch besser wäre sofort abmontieren! Das hat da absolut nichts verloren.
Wenn Berge heilig sind, ist Bergsteigen dann für dich ein spiritueller Akt? Für die meisten ist es ja einfach ein Sport, oder?
Bergsteigen kann durchaus ein spiritueller Akt sein, für mich war es das jedenfalls oft. Sport ist für mich etwas anderes, weniger tiefgreifendes. An Sport war ich nie wirklich interessiert. Ich war einmal bei einem Show-Klettern eingeladen, als das mit dem Sportklettern losging. Es war schrecklich und hatte nichts mit dem zu tun, was ich eigentlich in den Bergen suchte: Einsamkeit, Eigenverantwortung und eben kein applaudierendes Publikum.
Was verlieren wir, wenn wir wilde Räume verlieren?
Wir verlieren Erfahrungsräume, die essenziell für uns Menschen sind. Die Wildnis ermöglicht die Erfahrung des Alleinseins, der Freiheit und der Individualität, aber gleichzeitig der Verbundenheit mit allem. Man kann dort lernen, sich nicht so wichtig zu nehmen und sich gleichzeitig als wirksam und kraftvoll wahrnehmen. Diese Erfahrungen können einen zu einem reflektierten Individuum machen, das auch gegen den Strom zu schwimmen vermag. Diese Qualitäten dienen wiederum der Gesellschaft als Ganzem, «Massenmenschen» gibt es schon genug.
Dieses Jahr fand zum 22. Mal die Patrouille des Glaciers (PdG) statt. Du hast dich schon mehrfach vehement gegen diese Grossveranstaltung ausgesprochen. Was stört dich daran?
Wie man auf eurer (Anm. d. R.: gemeint ist Moutain Wilderness) Wildniskarte schön sieht, geht die Rennstrecke durch eines der letzten Gebiete der Schweiz, welche grossflächig eine hohe Wildnisqualität aufweist. Während einem Monat wird dort wie wild geflogen, die Strecke wird pistenähnlich präpariert und Arolla ist quasi militärisch besetzt. Eins möchte ich klarstellen: Ich habe nichts gegen das Militär, ich habe ja selbst gedient. Aber diese Verhunzung des Hochgebirges, diese Banalisierung und Respektlosigkeit geht zu weit.
Ist das Rennen für dich moderner Alpinismus oder «nur» ein Sportevent?
Das ist bestenfalls Sport, sicher aber das Gegenteil von Alpinismus. Dort nehmen Laien teil, die keine Ahnung von Gefahrenbeurteilung haben. Es wird einem alles von den Veranstaltern abgenommen. Eigenverantwortung spielt keine Rolle mehr. Die Berge sind in der Zeit der PdG wie ein Löwe, dem man Klauen und Zähne gezogen hat und das mit absurdem Aufwand.
Denkst du, die PdG hat Auswirkungen auf den Alpinismus über das Rennen hinaus?
Ich denke, ja. Die Leute sind dann schliesslich auch vor und nach der PdG mit Ultraleicht-Ausrüstung unterwegs. Nur, dass dann niemand für die Sicherheit sorgt. Wenn etwas passiert, sind sie nicht überlebensfähig.
Was müsste passieren, damit es wieder Alpinismus ist?
Ich habe folgendes im Kopf: Die einzelnen Patrouillen wählen ihren Startzeitpunkt während der Saison selbständig und eigenverantwortlich aus. Installiert werden einzig elektronische Stempelposten, um die Zeit zu nehmen. Die Eigenverantwortung wäre maximiert, die Auswirkungen auf die Natur minimiert.
Das wird kaum auf Anklang stossen. Die positiven ökonomischen Auswirkungen sind doch kaum zu leugnen, oder? Die Betten in Arolla sind voll.
Klar, da kommt Geld in die Dörfer. Aber dieser wirtschaftliche Bonus ist zu teuer erkauft. Es geht eben nicht nur um die Ökonomie. Und selbst hier gibt es Defizite. Für die Startnummernvergabe werden um die 1000 Personen, die in Arolla auf den Start warten, nach Sion gekarrt, Essen und Trinken dort und fahren dann mit ihrer Startnummer wieder hoch nach Arolla. Wirtschaftlich und ökologisch ein kompletter Blödsinn für das Val d`Hérens. Warum feiern die Leute den Start nicht hier, zum Beispiel in Evolène oder Les Hauderes?
Zurück zum Alpinismus. Was sollte man in den Bergen dürfen und was nicht?
Man sollte alles dürfen, was den Naturraum nicht unnötig verändert. Wie gesagt, diese Erfahrungen sind wichtig für den Menschen. Die Frage, ab wann ein Eingriff zu viel ist, ist schwierig. Ich bewundere, dass ein Paul Preuss nur hochkletterte, was er auch wieder abklettern konnte, ohne Seil. «Das Können ist des Dürfens Mass», war sein schönes Motto. Andererseits bin ich kein Mann der Extreme mehr, früher war ich eher ein Hardliner. Ich meine es braucht Kompromisse, sonst kommt man nirgendwo hin. So finde ich heute in Kletterrouten gebohrte Stände zum Teil ok, aber puristisch ist es natürlich nicht mehr. Früher war ich komplett grün, heute bin ich eher grün-liberal. Und ein wenig verhält es sich so auch mit meiner Meinung zum Alpinismus.
Was gibst du Mountain Wilderness als Organisation mit auf den Weg?
Ich habe eure Hefte gelesen, das entspricht ziemlich genau meiner Philosophie. Bleibt standhaft, aber kompromissbereit.
Noch zwei persönliche Fragen, bevor der Wein leer ist. Erstens: Wie bleibt man körperlich und geistig fit im Alter?
Nie aufhören! Zusammen mit Denyse (Munter’s Lebensgefährtin) mache ich täglich noch meine 300 Höhenmeter zu Fuss, jeden Tag, im Winter wie im Sommer. Und man muss immer neugierig bleiben, hinterfragen und mit sogenannten Experten und Autoritäten aufpassen (lacht).
Und zweitens, zum Abschluss: Wenn du noch einmal jung wärst. Welche Tour würde dich noch reizen?
Der Nordostpfeiler des Finsteraarhorn. Da muss es noch richtig wild und schön sein. Die Erstbegehung war 1905, diese Leistung würde ich zu gerne nachvollziehen.
Werner Munter, geboren 1941 in Lohnstorf, heute wohnhaft in Arolla VS ist ein Schweizer Lawinenforscher und Bergführer. Seine Verdienste als Lawinenexperte brachten ihm den Titel «Lawinenpapst» ein.