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Krisenhelfer – der Wert des Waldes in berglosen Zeiten

Der vernünftigere Teil der Bergsteigenden geht gerade nicht bergsteigen. Den Bergen tut das gut, der Druck auf Naherholungsgebiete steigt. Die siedlungsnahe Natur wird zur Retterin in der Not. Was wir an ihr und an den Bergen haben, merken wir gerade wie selten zuvor – und können vielleicht sogar etwas daraus lernen.

Der vernünftigere Teil der Bergsteigenden geht gerade nicht bergsteigen. Den Bergen tut das gut, der Druck auf Naherholungsgebiete steigt. Die siedlungsnahe Natur wird zur Retterin in der Not. Was wir an ihr und an den Bergen haben, merken wir gerade wie selten zuvor – und können vielleicht sogar etwas daraus lernen. 

Die Corona-Krise hält einen Grossteil der Bergbegeisterten gerade davon ab, sich ins Gebirge zu begeben. Was uns schmerzt, lässt die Natur aufatmen und verschafft ihr eine Auszeit, wie es sie – zumindest in diesem Jahrhundert – noch nicht gegeben hat. Uns erreichen Berichte von nie gesehenen Gems-Versammlungen und von einer Stille, die nur durch das Gezwitscher der Vögel durchbrochen wird. Keine Motorräder, keine Jets am Himmel, kein Heli-Lärm, nicht einmal Stimmen. Quasi ein «Silent Spring», nur dass diesmal der Mensch verstummt. Über Phänomene wie die gestiegene Sichtbarkeit der ansonsten so scheuen respektive verdrängten Tierwelt, hört man aktuell von verschiedenen Seiten. Während in den Bergen so manches Huftier ungewohnt gelassen über die Hänge trottet, berichtet der Nationalpark Calanques über Delfine und selten gesehene Vögel in seinen Buchten. Viele der ikonischen Naturlandschaften mit ihren Besucherzentren und stets in einiger Distanz zu den Städten, erleben aktuell eine wohlverdiente Verschnaufpause. Wohlverdient, denn was wilde oder zumindest naturnahe Landschaften für uns leisten, zeigt sich in der Corona-Krise, wie nur selten. 

Verlassene Berge und therapeutische Wälder

Während die monumentalen Landschaften in diesen Tagen unbesucht bleiben, sind die Naherholungsgebiete voll wie nie. Wohin man schaut wird gerannt, spaziert, meditiert, geslacklinet und natürlich gebiket – all das natürlich mit Sicherheitsabstand. Was wären die Städte gerade, ohne diese siedlungsnahe «Wildnis», deren vielfältiges therapeutisches Potenzial nun mehr denn je ausgeschöpft wird. Dass der Wald uns guttut, wussten wir schon vor Corona. Zum einen aus eigener Erfahrung und zum anderen durch etliche Studien, wie beispielsweise jenen zum Waldbaden (jap.: «shinrin-yoku»). Auch wissen wir, dass eine Landschaft uns dann guttut, wenn sie naturnah ist. Die therapeutische Wirkmächtigkeit des Stadtparks ist eben nicht die gleiche, wie die des Naturwalds. Neben der Qualität spielt aktuell auch die Quantität eine enorme Rolle, denn es braucht schlichtweg Platz. Es braucht Kapazität, damit nun auch die Menschen auf der grünen Therapie-Couch platznehmen können, welche ihr körperliches und seelisches Heil normalerweise woanders suchen. Nämlich wochentags in Fitness-Studios und Kletterhallen und am Wochenende am Berg oder im Schwimmbad. Die Gesundheitskosten, die uns siedlungsnahe Naturräume gerade jetzt ersparen, in dem sie uns Bewegung, frische Luft, Ruhe und gedankliche Entleerung ermöglichen, sind wohl schwer zu beziffern. Aber der Wert und die existenzielle Wichtigkeit solcher Gebiete könnten nicht offensichtlicher vor uns liegen als unter den derzeitigen Einschränkungen. 

Rücksicht wichtiger denn je

Viele Menschen in der Natur bedeuten eine Zunahme an Konfliktpotenzial. Man sollte sich deshalb gerade jetzt an die gängigen Spielregeln halten, damit alle – Mensch und Mensch, aber auch Mensch und Natur – gut aneinander vorbeikommen (im Abstand von mindestens zwei Metern!). Konflikte gibt es zwischen Nutzergruppen ebenso, wie zwischen Mensch und Natur. Es mag verlockend sein, die gut besuchten Wege zu verlassen und allein durchs Dickicht zu stromern. Nur sind genau das die Störungen, an welche das Wild nicht gewöhnt ist und welche ihm zusetzen. Dies vor allem, wenn noch ein Hund dabei ist. 

Wenn ich aktuell, meist rennend, in den Berner Bremgartenwald eintauche, mache ich soziale Erfahrungen, die ich zwar im Wald nicht unbedingt suche, die mich aber positiv stimmen: Es ist deutlich mehr los auf den Trails, aber die Atmosphäre ist geprägt von einer Rücksicht und einem Wohlwollen, wie ich es mir in den Bergen oft wünschen würde. Man grüsst freundlich, hält Abstand und weicht aus. Natürlich kommt einem auch das obligatorische schwarze Schaf entgegen, mal strampelnd, mal rennend, aber im Grossen und Ganzen funktioniert es. Warum sollte es also am Berg nicht funktionieren? Vielleicht können wir die Rücksicht aus den Stadtwäldern zukünftig vermehrt in die Berge tragen, denn auch dort wird es ja manchmal eng. So mancher Bikerin-Wanderer-Konflikt würde sich so in Luft auflösen. 

Plädoyer für mehr Wildnis – am Berg und in Stadtnähe

Für Mountain Wilderness als Schlüsselorganisation im Einsatz für mehr Wildnis in der Schweiz ist deshalb, neben grossflächigen Wildnisgebieten in den Alpen, auch kleinflächigere und vor allem siedlungsnahe Wildnis mitzudenken. Neben anderen ökologischen Funktionen sollen diese – wir bleiben eine Alpenschutzorganisation – den Druck von Gebirgsräumen nehmen, indem sie Natur(-sport)erfahrungen «vor der Haustür» ermöglichen, ohne weite Anreise. Zudem sind wir der Meinung, dass der Mensch Wildnis für seine psychische und physische Gesundheit braucht. Betrachtet man dazu die internationale Forschung zu Natur und Gesundheit, sind wir mit dieser Haltung in guter Gesellschaft, ja alles andere als träumende Esoterikerinnen und Esoteriker. Welchen Wert hätte es aktuell, hätte jede Schweizer Gemeinde ein erlebbares Wildnisgebiet vor ihren Toren, oder sogar innerhalb dieser? Natürlich nicht nur als «Therapie-Wald» in der Krise und auch nicht nur für den Menschen, aber eben auch.

Aus der Krise lernen für die Zeit danach

Wir von Mountain Widerness versuchen der Situation Positives abzugewinnen. Mehr Menschen schätzen wilde Räume wert und es herrscht eine Atmosphäre von Solidarität und Gemeinsinn. Kann das nicht ein «Window of Opportunity» für ein neues Mensch-Wildnis-Verhältnis sein? Wir würden uns wünschen, dass es uns als Gesellschaft gelingt, die in der Krise gewonnenen Einsichten weiter zu kultivieren und sie über die Krise hinauszutragen. Was also tun sobald die «Freiheit, aufzubrechen wohin wir wollen», um es mit Messner zu sagen, zurück ist? Losstürmen gen Berg und mit Vollgas nachholen, soviel nur geht? Oder mehr Qualität als Quantität? Mit neuer Ruhe und Achtsamkeit losziehen, vielleicht erst nochmal ins leere Wildnisgebiet hinter der Stadt? Alle anderen sind ja dann wieder in den Bergen.

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