Wildnis-Studie
Die Studie von Mountain Wilderness Schweiz und der Eidg. Forschungsanstalt WSL zeigt erstmals auf: Rund 17 Prozent der Schweizer Landesfläche können noch als wild bezeichnet werden. Sie stehen durch touristische Erschliessungen und Interessen der Energiewirtschaft jedoch oft unter Druck. Gleichzeitig zeigt die Studie auch, dass die lokale Bevölkerung Wildnis gegenüber oft kritisch eingestellt ist.

Hohe Wildnisqualität im Hochgebirge
Die Flächen mit hoher Wildnisqualität wurden mittels Geographischem Informationssystem (GIS) ermittelt. Da es in Mitteleuropa kaum mehr primäre, unberührte Wildnis gibt, wurde bei der GIS-Modellierung Wildnis als Kontinuum des menschlichen Einflusses betrachtet: Je geringer der menschliche Einfluss ist, desto höher ist die Wildnisqualität (siehe Abbildung 1).
Die Wildnisqualität der Schweiz wurde dann mit vier geographisch messbaren Kriterien bestimmt und für ein Netz von 100 mal 100 Metern modelliert:
- Natürlichkeit
- Menschliche Einflüsse
- Abgeschiedenheit
- Rauheit der Topographie
Rund 17 Prozent der Schweizer Landesfläche haben demnach eine hohe bis höchste Wildnisqualität bewahrt. Diese Flächen sind mindestens 500 Hektar gross und weisen hohe Werte für alle oder Teile der vier verwendeten Wildnis-Kriterien auf. Flächen hoher und höchster Wildnisqualität liegen vor allem in den Alpen, besonders im Bereich des Hochgebirges und der vergletscherten Gebiete (siehe Abbildung 2).
Diese Wildnisqualität ist eine Aufnahme des jetzigen Wildnis-Zustands. Doch wie könnte sich Wildnis in der Schweiz in den nächsten Jahren entwickeln? In der Studie gibt ein Extensivierungswert Auskunft darüber, wie sich in den letzten Jahrzehnten die Landnutzung in der Schweiz verändert hat – woraus sich auch die zukünftige Wildnisentwicklung abschätzen lässt. Um eine starke Extensivierung handelt es sich zum Beispiel, wenn Ackerland zu Wald wurde. Flächen mit Wildnispotenzial aufgrund von Nutzungsextensivierung konzentrieren sich ebenfalls auf die Alpen und Voralpen, insbesondere auf die südlichen Täler. Demgegenüber hat sich die Nutzung im Mittelland oft sogar intensiviert.
Ungewisse Zukunft für die letzten Wildnisräume
Der Druck auf die alpine Wildnis ist in der Schweiz gross. Insbesondere die Infrastruktur für Tourismus und Energiegewinnung gefährdet die letzten unberührten Gebiete. Der Rückzug in den Tälern des Südens geschieht oft unkoordiniert. Zudem gibt es in der Schweiz nur wenige Schutzgebiete, welche die freie Naturentwicklung explizit als Kernziel haben. Es sind dies:
- Naturwaldreservate (erfolgreiches Instrument, oft jedoch verstreut und kleinflächig);
- Nationalpärke (bisher nur ein bestehender Nationalpark);
- Naturerlebnispärke (bisher nur der Wildnispark Zürich, Sihlwald);
- Naturschutzgebiet Grimsel (einzigartiges Beispiel im Kanton Bern)
All dem liegt zugrunde, dass Wildnis in der Schweiz als Konzept nur wenig verankert ist. Umso wichtiger ist es, zu verstehen, was Menschen in Räumen hoher Wildnisqualität über Wildnis denken.
Lokale Bevölkerung steht Wildnis kritisch gegenüber
Die Einstellung der lokalen Bevölkerung zur freien Naturentwicklung wurde am Fallbeispiel des Maderanertals im Kanton Uri untersucht. Qualitative Interviews haben aufgezeigt, dass die lokale Bevölkerung eine enge Bindung zur physischen Umwelt hat. Diese Bindung wirkt sich auch auf die Betrachtung von Wildnis aus. Verwildert ein Gebiet, so verändert dies auch die Mensch-Umwelt-Beziehung, weil zum Beispiel ein ehemals genutzter Weg nicht mehr genutzt werden kann. Wildnis wird daher oft als Bedrohung wahrgenommen.
Es wurden sieben Argumentationsmuster herausgearbeitet, die sich bezüglich Einstellung zu freier Naturentwicklung unterscheiden. Die Mehrzahl der Befragten ist gegenüber Wildnis und freier Naturentwicklung kritisch eingestellt (siehe Abbildung 3).
Eine Befragung von Fachpersonen aus Kantonen mit hoher Wildnisqualität (Bern, Wallis, Tessin, Uri und Graubünden) zeigt wiederum: Fachpersonen sind in hohem Masse der Ansicht, dass es in der Schweiz unberührte Gebiete braucht. Nicht für alle ist jedoch eindeutig, dass es im eigenen Kanton mehr unberührte Gebiete braucht. Man spricht diesbezüglich vom NIMBY-Effekt («Not In My Backyard»). Der NIMBY-Effekt tritt zum Beispiel auf, wenn jemand grundsätzlich Autobahnen begrüsst, sich lokal aber gegen den Bau einer neuen Autobahn wehrt.
Wildnis muss aktiv gefördert werden – auch in der Stadt
In den Alpen besteht einerseits durch die grossen unberührten Hochalpen und andererseits durch verwildernde Südtäler faszinierendes landschaftsökologisches Wildnispotenzial. Diese Räume sind vor allem auch als Erfahrungsräume für Menschen sehr wertvoll. Wildnis hat vor allem dort eine Chance, wo das landschaftsökologische Potenzial (Wildnisqualität und Extensivierung) mit dem gesellschaftlichen Potenzial (Akzeptanz, rechtliche und politische Grundlagen) überlappt. Eine breite Sensibilisierung für die Bedeutung von Wildnis und der Einbezug der lokalen Bevölkerung sind daher wichtig, um langfristig Wildnis in der Schweiz zu fördern. Es gilt insbesondere Räume hoher und höchster Wildnisqualität zu erhalten. Bestehende Instrumente der freien Naturentwicklung, zum Beispiel Waldreservate, sollten ausgebaut werden. Für einen tiefgreifenden Wertewandel ist zudem auch Wildnis in Stadtnähe, zum Beispiel in Naturerlebnispärken wie dem Sihlwald, unerlässlich.
Von der Studie zur Strategie
Die Studie «Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz» schliesst eine Lücke. Wildnis ist in den letzten Jahren verstärkt zum Thema im europäischen Naturschutz geworden. Viele Länder haben Studien zur Ermittlung von Wildnispotenzial erarbeitet. Eine solche Studie hatte bisher für die Schweiz gefehlt. Die Studie ist als Buch in der Bristol-Schriftenreihe im Haupt Verlag erschienen und kann direkt in unserem Shop bezogen werden.
Mountain Wilderness Schweiz hat aus der Wildnis-Studie Kernbotschaften und Forderungen abgeleitet. Diese haben als Grundlage für die Wildnis-Strategie Schweiz gedient, die in Zusammenarbeit mit Interessenvertretern aus Raumplanung, Natur- und Landschaftsschutz sowie Bergsport entwickelt wurde.
Gefördert durch:
Bristol-Stiftung