Mountain Wilderness → News → Gletschervorfelder: Die letzten Gebiete, wo menschliche Spuren rar sind
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Die spätsommerliche Sonne strahlt neben dem Bietschhorn. Ab und zu wird sie von einer dicken Wolke verdeckt, die das Lötschental sogleich in Schatten hüllt. Am Ende des Tales wandern wir am kristallklaren Grundsee, einem Schmelzwassersee, vorbei und queren die letzten alpwirtschaftlich genutzten Weiden. Der Weg führt entlang der jungen, ungestüm rauschenden Lonza den Berg hinauf. Er ist gesäumt von Lärchen, die zwischen den Felsblöcken hervorwachsen und deren Wurzeln sich um die Steine klammern. Allmählich präsentiert sich die Gegend flacher und sumpfiger, Bäume werden weniger und kleiner, die ruhiger gewordene Lonza mäandriert zwischen Kiesbänken hin und her. Trotz nassem Boden und einsinkenden Füssen laufen wir neben verblühten Blumen und Gräsern durch die Moorlandschaft zu einer Felsformation in ihrer Mitte. Dort angekommen folgen wir gespannt den Ausführungen von Mary Leibundgut (Geografin und Botanikerin) und Tobias Ibele (Geologe). Die beiden ausgewiesenen Fachpersonen für Gletschervorfelder leiten diese zweitägige Exkursion im Lötschental für interessierte Organisationen und Sachkundige.
Als Gletschervorfelder werden jene Gebiete bezeichnet, die ca. 1850 beim letzten Gletscherhöchststand in den Alpen noch eisbedeckt waren oder unmittelbar daran angrenzen. Es sind sich stetig verändernde Lebensräume. Insbesondere die starke Prägung durch das Gletscherschmelz- und Fliesswasser zeichnet die Gletschervorfelder aus: schwankender Jahres- und Tagesgang des Abflusses, Überflutungen und Trockenfallen von Flussterrassen, wechselnde Abflussrinnen. Es kommt zu Prozessen wie Erosion, Transporten, Um- und Ablagerungen, wodurch die Sukzession (Neubesiedlung von Lebewesen wie Pflanzen, Pilzen und Tieren) immer wieder unterbrochen wird. Aufgrund der natürlichen Dynamiken entwickeln sich einerseits Standorte für seltene Arten, anderseits kann sich eine enorme Vielfalt an Formen, Lebensräumen und Pflanzen in Gletschervorfeldern etablieren.
Ganz egal wie dynamisch, vielfältig oder selten Gletschervorfelder sind, eines haben sie gemeinsam: Menschliche Spuren sind kaum vorhanden. Spätestens seit dem Verbrennen fossiler Energien und dem damit verbundenen Treibhausgaseffekt hinterlassen Menschen überall ihre Spuren – selbst in Gletschervorfeldern im Hochgebirge. Verglichen mit dem stark besiedelten Mittelland wird jedoch schnell klar, dass es in der Schweiz keine wilderen Gebiete als Gletschervorfelder gibt. Dies belegt auch die von Mountain Wilderness Schweiz und der Eidg. Forschungsanstalt WSL 2019 veröffentlichte Wildniskarte, welche die Wildniskriterien Natürlichkeit, menschliche Einflüsse, Abgeschiedenheit und Rauheit der Topografie berücksichtigt. Gletscher und Gletschervorfelder gehören zu den rar gewordenen Flächen mit der höchsten Wildnisqualität. Wenn wir uns die starke Besiedlung sowie gute Erschliessung der Bergregionen in der Schweiz vor Augen führen, wird jedes einzelne dieser Gebiete erst recht zu etwas ganz Speziellem.
Mit dem Abschmelzen der Gletscher gewinnen wir immer mehr Land, das kaum menschliche Spuren aufweist – «Neues Land», wie es der Geologe Tobias Ibele benennt. Beispielsweise durch touristische Nutzungsformen oder den Bau von Staumauern für die Wasserkraft gerät aber auch dieses «Neue Land» in einer wachstumsgetriebenen Gesellschaft sofort unter Druck. Der Schutz der Gletschervorfelder ist hingegen schwach und das Bewusstsein für den Wert dieser Gebiete in der Bevölkerung kaum vorhanden. Wollen wir diese wilden Bereiche in den Alpen bewahren, ist ein Umdenken dringend angezeigt. Und es braucht einen stärkeren Schutz der Gletschervorfelder. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir uns eine Wirtschaft, die unsere Lebensgrundlagen zerstört, noch leisten können. Meine Antwort steht fest: Nein, das können wir nicht. Stattdessen brauchen wir eine Wirtschaft, die das Wohl aller Menschen und somit auch der Natur ins Zentrum stellt.
Dynamik: Gletschervorfelder sind durch kontinuierliche Veränderungen geprägt. Sie entstehen, wenn sich Gletscher zurückziehen und eine zuvor eisbedeckte Fläche freigelegt wird. In dieser Zone vollzieht sich ein fortlaufender Prozess der Landschaftsumgestaltung: Schmelzende Gletscher hinterlassen Moränen, Schotter und Felsblöcke, Flüsse sowie Schmelzwasser formen das Gelände weiter. Die Dynamik zeigt sich auch in der Entwicklung der Vegetation, indem sich Pionierpflanzen und andere Lebewesen in diesen jungen, instabilen Lebensräumen ansiedeln.
Vielfalt: Gletschervorfelder verfügen über eine hohe Vielfalt an geologischen, hydrologischen und biologischen Merkmalen. Aufgrund der unterschiedlichen Bodenbedingungen, Wasserläufe und Mikroklimata entstehen vielschichtige Lebensräume. Von Pionierarten bis hin zu spezialisierteren Pflanzen bewachsen verschiedenste Pflanzengesellschaften die kargen Böden. Diese einzigartige Kombination von Geofaktoren und der fortschreitenden Besiedelung durch Pflanzen und Tiere lassen Gletschervorfelder zu Hotspots für biologische Vielfalt werden; insbesondere für an extreme Bedingungen angepasste Arten.
Seltenheit: Gletschervorfelder fördern seltene Pflanzengesellschaften und ‑arten wie z. B. alpine Schwemmufergesellschaften, die auf ungestörte Gletscherbäche und schwankende Wasserstände angewiesen sind.
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