Search
Close this search box.

Die Natur selbst als Lösung anerkennen

Marie-Claire Graf, eine der bekanntesten Klimagerechtigkeits-Aktivistinnen der Schweiz und Maren Kern, Geschäftsleiterin von Mountain Wilderness Schweiz, diskutieren im Interview darüber, weshalb erneuerbare Energie nicht auf Kosten von Natur und Landschaft produziert werden soll. Beide sehen grosses Potenzial in der Suffizienz und stören sich daran, dass die Lösung von Klima- und Biodiversitätskatastrophe vor allem mit technischen Mitteln gesucht wird.

Seit eineinhalb Jahren ist ein Wettlauf um erneuerbare Energie im Gang, der zunehmend unerschlossene alpine Räume tangiert: Ende 2021 erscheint die 15er-Liste des Runden Tischs Wasserkraft. Im Herbst 2022 verabschiedet das Schweizer Parlament den Solarexpress und im Frühling 2023 diskutiert es mit dem sogenannten «Mantelerlass» schwerwiegende Eingriffe in den Natur- und Landschaftsschutz zugunsten der Förderung von Erneuerbaren. Der Mantelerlass führt die Revisionen des Energiegesetzes und des Stromversorgungsgesetzes unter dem Namen «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» zusammen. Politiker:innen begründen die Schritte mit der Dringlichkeit der Klimakatastrophe und einer drohenden Strommangellage. Es scheint sich ein Graben aufzutun zwischen Menschen, denen Klimaschutz wichtig ist und Menschen, die sich für Biodiversität und Landschaft einsetzen. Gibt es diesen Graben tatsächlich, und wie können wir ihn gegebenenfalls überwinden? Marie-Claire Graf und Maren Kern diskutieren über brennende Fragen der Klima- und Umweltbewegung.

Mountain Wilderness:Was beschäftigt euch zurzeit am meisten?

Marie-Claire Graf: Im sechsten Weltklimabericht beschreibt die Wissenschaft erneut ein klares Bild der Lage: Wir befinden uns in einer Klima- und Biodiversitätskrise, und das Fenster zum Handeln schliesst sich rapide. Auch wird klar aufgezeigt, dass es essenziell ist, Biodiversitäts- und Klima-Aktionen miteinander zu denken und umzusetzen – zusammen mit den Menschen vor Ort.

Maren Kern: Mich wühlen aktuell vor allem die Verhandlungen zum Mantelerlass im Parlament auf. Menschen wie Raimund Rodewald, die sich seit Jahrzehnten mit Natur- und Landschaftsschutz beschäftigen, sagen mir, dass sie einen solch grossen Angriff auf Umwelt und Raumplanung noch nie erlebt haben.

Die Energiewende ist ein zentrales Thema…

Marie-Claire: Einerseits ist die Dringlichkeit bei vielen Entscheidungstragenden angekommen und viele Akteur:innen beschäftigen sich endlich damit – auch gerade in Wirtschaft und Politik. Das ist dringend nötig, weil die anstehenden Herausforderungen keine Partei alleine lösen kann. Andererseits führt dies dazu, dass sich viele unfundiert mit dem Thema beschäftigen. Sie übersehen bei dieser Dringlichkeit die Komplexität und sind dann offen für Schnellschüsse.

Maren: Die Komplexität ist eine grosse Hürde. Die Gesetzesfahne des Mantelerlasses umfasst mehr als 140 Seiten. Da den Überblick zu behalten, sich die Konsequenzen plastisch vorzustellen und eine ausgewogene Vorlage auszuarbeiten, ist sehr schwierig. Die Dringlichkeit und die vielen Interessen, die reinspielen, machen es nicht einfacher.

Die Dringlichkeit ist oft ein Argument dafür, die Energiewende über alles zu stellen. Was siehst du für Lösungsansätze in diesem Punkt, Marie-Claire?

Marie-Claire: Ich setzte mich immer für klimagerechte Lösungen statt Klimalösungen ein. Klimalösungen beziehen zum Beispiel oft nicht alle sozialen Schichten ein, weil sich nicht alle einen Tesla leisten können. Zu klimagerechten Lösungen gehört neben dem Einbezug der Menschen auch der Einbezug der Natur.

Wie geht das?

Marie-Claire: Einerseits müssen die Lösungen zur Energiewende die Biodiversitäts- und Klimakrise gemeinsam bekämpfen und andererseits die Menschen auf dem Weg zur gesamtgesellschaftlichen Transformation begleiten. Zudem bin ich der Meinung, dass Suffizienz – also weniger zu konsumieren – immer die erste Lösung sein muss. In der Politik und im Parlament wird sie praktisch nicht angesprochen. Eines der grössten Probleme ist, dass wir zu schnell auf technologische Lösungen eingehen, anstatt gesellschaftliches Verhalten zu ändern. Da ist so viel Potenzial, über das nur ganz wenige Leute sprechen wollen.

Maren: Wie bringst du Suffizienz in den Diskurs ein? Was hast du da für Erfahrungen gemacht?

Marie-Claire: Da ich keine Interessenslobby vertrete, kann ich unkonventionelle Narrative vertreten. Für den nötigen Systemwandel brauchen wir keine digitalen oder technischen Innovationen und auch keine Hypes um Start-ups, die den Status Quo erhalten, sondern einen Wandel zu dem, was wir bereits kennen. Leider befürchten die Parteien, dass es sie Sitze kosten oder die Glaubwürdigkeit schädigen würde, wenn sie von Suffizienz sprechen.

Maren: Auf der anderen Seite gibt es einen gesellschaftlichen Trend zu Reduktion und Degrowth. Es ist logisch und fassbar für alle, dass dies die schnellste Massnahme ist, die wir ergreifen können, um die Energietransformation zu schaffen.

Marie-Claire: Leider interessiert sich noch immer nur eine sehr kleine Gruppe für solche systemischen Lösungen. Und wir haben noch nicht die Lösungen eruiert, die es bräuchte, um das System lebenswert und zukunftsfähig zu gestalten. So hängen zum Beispiel unsere sozialen Institutionen wie Vorsorge, Pensionskassen, Gesundheitssystem und Schulsystem am wirtschaftlichen Wachstum. Wir können heute gar nicht weniger wachsen, wir würden die sozialen Ungleichheiten verschärfen. Darum müssen wir darüber sprechen, um ein Momentum aufzubauen, damit wir solche gesellschaftlichen Lösungen erproben können. Wir brauchen zudem ganz viele Leute, die an der Schnittstelle zwischen den politischen Rahmenbedingungen, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Zivilbevölkerung arbeiten und dazwischen hin- und herübersetzen können.

Marie-Claire, du bist im Komitee der Initiative «Jede einheimische + erneuerbare Kilowattstunde zählt». In dieser geht es vor allem um den Ausbau der Erneuerbaren, wenn es sein muss auf Kosten von Natur und Landschaft.

Marie-Claire: Für die Energiewende ist es entscheidend, dass wir in der Schweiz souverän unsere Energie herstellen, damit wir nicht von Importen aus problematischen Staaten abhängen. Wir müssen selber die Hoheit über unsere Energie haben, viel unabhängiger und nachhaltiger werden, sodass die Geldflüsse im Land bleiben. Damit wir hier nachhaltige Jobs kreieren können. Gleichzeitig weiss ich, dass es bei nicht gut durchdachten Projekten Konflikte mit Natur und Umwelt gibt.

Wieso dann die Initiative?

Marie-Claire: Mir geht es vor allem um den Abbau bürokratischer und koordinativer Hürden bei Solar-Projekten im bebauten Gebiet, die nicht im Clinch mit Natur und Umwelt sind.

Maren, wie steht Mountain Wilderness zu dieser Initiative?

Maren: Unsere Hauptkritik ist, dass die Natur nicht vorkommt im Initiativtext. Ich habe grosse Bedenken, dass auf dieser Verfassungsgrundlage massiv ausgebaut würde, ohne Rücksicht auf Natur und Landschaft. Es gilt zu differenzieren: Dezentrale Produktion macht für Solarenergie total Sinn, Kleinwasserkraftwerke schädigen jedoch ganze Ökosysteme bei sehr wenig Produktionsleistung.

Allenthalben heisst es jedoch, Photovoltaik auf Dächern reiche nicht. Wie schaffen wir die PV-Wende im bebauten Gebiet endlich?

Marie-Claire: Eines der grössten Probleme ist die Thematik um Mieter:innen und Besitzer:innen. Oft besitzen oder mieten Menschen Häuser, welche nicht die finanziellen Ressourcen besitzen, um Photovoltaikanlagen zu bauen. Ebenfalls braucht es dringend mehr politischen Willen und langfristige Subventionen. Wir müssen zudem Personal ausbilden, welches die Anlagen überhaupt installieren, warten und die Leute beraten kann. Es werden zum Beispiel noch immer meistens dieselben fossilen Heizungen empfohlen, anstatt auf erneuerbare Energien zu setzen.

Maren: Ich denke auch, dass Bildung, Ausbildung und Umschulung von Personal ein grosses Nadelöhr sind. In der Schweiz ist zudem der Schutz von Privatbesitz sehr gross. Der Hauseigentümerverband hat sich immer gegen eine Solarpflicht auf Hausdächern gestellt. Es gibt jedoch durchaus Fortschritte für «grüne Anliegen» in den neusten politischen Diskussionen: Neue Bestimmungen für Solaranlagen auf Parkplätzen und Verbesserungen bei Stromeffizienz und Elektromobilität. Gleichzeitig wurden letzten Herbst mit dem Solarexpress gigantische Anlagen auf der freien Fläche in den Alpen von Planungspflichten befreit und Subventionen für sie in Aussicht gestellt. Das stösst uns sauer auf: Für die Kleinen ist noch immer eine Bremse drin und grosse Solarkraftwerke in der Natur werden massiv gefördert.

Marie-Claire: Ich stimme dir zu, Maren. Es sind keine klimagerechten Lösungen, wenn nur für grosse Anlagen finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt und die kleinen ausgelassen werden.

Es scheint eine Verhärtung zu geben zwischen Menschen – in meiner Erfahrung oft älteren – die finden, wir müssten die Biodiversität schützen und auf der anderen Seite eher jüngeren Menschen, die im Klimaschutz die grösste Dringlichkeit sehen.

Marie-Claire: Ich habe mit vielen jungen Menschen zu tun, welche die Natur sehr schätzen und ehren. Viele junge Menschen verbinden die Biodiversitäts- und Klimakrise mit der sozialen Ungleichheit und Unterdrückung und können so klimagerechte Lösungen präsentieren. Sie stossen darum zum Beispiel bei älteren Parlamentarier:innen auf Unverständnis, die einen technokratischen Ansatz verfolgen.

Maren: Ich glaube schon, dass viel Verständnis da ist im Sinne von Klimaschutz für die Welt als Gesamtsystem. Vielleicht braucht es ein paar Lebensjahre, bis man überhaupt schätzt, was so eine intakte Landschaft bedeutet. Meinen Blick über unverbaute Berge schweifen zu lassen, das gibt mir einfach sehr viel.

Natur- und Landschaftsschutz oder Klimaschutz – wo würdet ihr euch einteilen?

Maren: Ich habe an der ETH studiert. Klimaschutz und die Sensibilisierung dafür hatten schon damals einen wichtigen Stellenwert. Vieles war sehr technologiefreundlich, gerade auch in Hinblick auf eine Zukunft mit erneuerbaren Energien. Meine Arbeit bei Mountain Wilderness hat mich sensibilisiert für die Anliegen von Natur und Landschaft bei der Energieversorgung. Ich denke, dass wir diese Bereiche gemeinsam denken müssen, weil wir sonst unsere Zukunft verbauen.

Marie-Claire: Ich habe ebenfalls an der ETH studiert und einer der Gründe, weshalb ich an die Uni gewechselt habe, war, dass meiner Meinung nach ein sehr technischer Ansatz gewählt worden ist. Dieser entspricht meinem Verständnis des Lösungsansatzes nicht und verhindert, dass wir die Wende schaffen, die klimagerecht ist und die Menschen und die Natur mitnimmt. Ich glaube, das Spannungsfeld liegt eher zwischen natürlichen Lösungen – die Natur als Lösung selbst anzuerkennen – und den technischen Lösungen.

Das Interview erschien in der 86. Ausgabe des Mitgliedermagazins Wildernews.

Diesen Beitrag teilen
Facebook
Twitter
LinkedIn
Mehr News