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Die digitale Eroberung der Berge

Die Digitalisierung hat längst Einzug gehalten unter den Berggängerinnen und -gängern. Beschränkt sie eigenverantwortliches Handeln und unsere Fähigkeit zur Risikoeinschätzung? Bedroht die digitale Datenflut am Ende gar die Wildnis?

Die Tour ist auf einer online Karte geplant, im Gebirge führt das GPS, die Gipfelbesteigung registriert das virtuelle Gipfelbuch, die Fotos präsentiert Instagram: Die Digitalisierung hat längst Einzug gehalten unter den Berggängerinnen und -gängern. Sie verspricht Vereinfachung und Effizienzgewinn. Aber beschränkt sie nicht eigenverantwortliches Handeln und unsere Fähigkeit zur Risikoeinschätzung? Oder bedroht die digitale Datenflut am Ende gar die Wildnis?

Darüber haben wir mit zwei Personen gesprochen, die sich auskennen: Julia Wunsch ist Social Media Consultant, Fotografin und Outdoor-Liebhaberin. Rund 7’500 Personen folgen ihr auf Instagram. Marco Volken ist Bergfotograf, Autor von Bergbüchern und alpinen Führern und ein erfahrener Alpinist. Ein Smartphone besitzt er erst seit wenigen Monaten.

Mountain Wilderness: Wie geht ihr bei eurer Tourenplanung vor? Nutzt ihr noch Papier?

Julia: Ich besitze tatsächlich von fast allen Gebieten Karten, so richtig offline (lacht). Diese lege ich am Boden aus für den Blick auf das grosse Ganze. Zudem nutze ich Schweiz Mobil, um Touren zu zeichnen, für Skitouren White Risk. Dann lade ich meist einen GPX-Track auf meine Uhr fürs Navigieren unterwegs, auf Tour nutze ich oft auch die Swisstopo App, wenn ich spontan einen alternativen Weg suchen möchte. Google Earth nutze ich, um abgelegene Zeltplätze vorab auszukundschaften.

Marco: Es hängt von der Disziplin ab. Für Skitouren reicht in der Regel die online Karte mit den Hangneigungen und Schutzgebieten. Den Rest kann ich mir ausdenken, ich brauche keine eingezeichneten Routen. Für alpines Wandern, erst recht beim Klettern und Hochtouren, bin ich auf ausführlichere Informationen angewiesen. Diese bekomme ich von Leuten, welche die Tour schon gemacht haben, aus Büchern und Führern oder auch mal aus dem Internet.

Und welche Hilfsmittel nutzt du für die Orientierung unterwegs, Marco?

Marco: Mir gefallen die gedruckten Karten. Sie sind ein Kulturgut und ästhetisch. Ich glaube, dass durch die Nutzung der Papierkarte der Orientierungssinn fit bleibt. Alle Sinne sind offen, man muss mehr denken. Die digitalen Hilfsmittel zum Navigieren sind vergleichbar mit Wanderstöcken. Wenn man sie immer nutzt, kann das Gleichgewichtsgefühl verloren gehen.

Und, Julia, stimmt das?

Julia: (lacht) Ja und nein. Zum Teil stimme ich Marco zu. Man kann sich im Gelände nicht blind auf digitale Hilfsmittel wie die GPS-Tracks verlassen. Diese sind eine Ergänzung, kein Ersatz. Karten und Gelände lesen muss man trotzdem können!

Marco: Die meisten Menschen, die ich auf Touren sehe, haben nicht ständig ein Smartphone in der Hand. Sie navigieren mit ihren Augen. Man muss auch unterscheiden zwischen gross- und kleinräumiger Orientierung. Wenn man auf unmarkierten Routen im dichten Nebel steckt, sind Geräte mit GPS-Tracks unbestritten sehr hilfreich. Aber im Kleinräumigen, in einer Kletterroute, sind GPS-Tracks sinnlos und auf einer Hochtour geht man dort, wo z.B. Trittschnee liegt. Wenn man auf einem Gletscher dem GPS folgt, landet man garantiert in einer Gletscherspalte.

Nehmen wir an, die Tour ist erfolgreich verlaufen: Wie nehmt ihr eure Verantwortung bei der Publikation eurer Touren wahr? Einzelne Orte in den Bergen werden nach Social Media Posts regelrecht überrannt.

Julia: Wir führen viele Gespräche unter Fotografinnen und Fotografen darüber. Ich habe für mich entschieden, dass ich den Ort nur nenne, wenn er schon bekannt ist. Ansonsten nenne ich ihn nicht. Viele Leute fragen auf meine Posts «Wow, wo ist das?», aber ich gebe den Ort nicht preis, denn ich möchte nicht, dass er überrannt wird. Auch lösche ich Kommentare unter meinen Beiträgen, die den Ort nennen. Wer unbedingt herausfinden möchte, wo das ist, muss selbst ein bisschen Recherchearbeit leisten – so wie ich das im Vorfeld auch mache. Zudem leiste ich Aufklärungsarbeit, indem ich in Posts z.B. über Wildruhezonen oder über die Regeln für den Einsatz von Drohnen informiere und auch mal bei anderen kommentiere, wenn ich z.B. ein Campingvideo aus einem Jagdbanngebiet sehe.

Marco, gibt es das auch in deinen Büchern, dass du den Ort nicht preisgibst?

Marco: Ja, ja, das gibt es. Es gibt Gebiete, von denen ich persönlich finde, dass sie fragil sind und nur ganz wenige Menschen vertragen. Solche publiziere ich nicht. Grundsätzlich lebe ich aber von der Veröffentlichung von Sachen, die man noch nicht kennt. Meine Überlegung ist es, Leuten, die das Naturerlebnis suchen, andere Tipps als den überlaufenen Oeschinensee zu bieten und sie damit sogar von Fern- bzw. Flugreisen abzuhalten. Wenn man etwas kennt und schätzt, ist man auch eher bereit, es zu schützen. Wer noch nie im einem Tessiner Seitental war, findet es nicht so schlimm, wenn dort eine Staumauer gebaut wird. Aber wer ein paar Mal dort war, weiss, wie wertvoll solche wilden Orte sind.

Verändern denn Social Media den Umgang mit der Natur?

Julia: Aus meiner Sicht schon. Es gibt positive und negative Aspekte: Die Leute kommen mehr raus, entdecken wunderschöne Orte bei uns, die sie dadurch – wie Marco bereits gesagt hat – schützen wollen. Andererseits gibt es mehr «Turnschuhtouristen», die kaum ein Bewusstsein für die Natur haben und zum Beispiel Abfall liegen lassen, bis hin zu ganzen Zelten.

Marco: Obwohl es im Netz mehr Beschreibungen von ganz unterschiedlichen Touren gibt, konzentrieren sich trotzdem noch mehr Leute an denselben Orten. Wenn ich mir vorstelle, wie viele Leute im Sommer in der Greinaebene rumlaufen – das hat nicht mehr viel mit Naturerlebnis zu tun. Aber ein Tal weiter hat man seine Ruhe… Kennst du Orte, die wesentlich einsamer waren, bevor sie auf Social Media gepusht wurden?

Julia: Ruhiger, aber nicht gerade einsam war es zum Beispiel rund um das Augstmatthorn, bevor der Ort auf Social Media explosionsartig verbreitet wurde. Auch der Lago di Saoseo oder Lej da Staz wurden geradezu überrannt nach Instagram-Posts.

Diesen Massenauflauf an bestimmten Orten, gab es den nicht schon vor Social Media?

Marco: Ich glaube, dass es einfach Orte gibt, die anziehen. Man redet schon seit 150 Jahren von «Modetouren». Die Trends sind heute einfach extremer als früher: Sie tauchen schnell auf und «boomen», flachen dann aber genauso schnell wieder ab.

Julia: Ich beobachte, dass sich das Zielpublikum erweitert hat. Durch Social Media haben auch jüngere Menschen Lust auf Touren in den Bergen bekommen. Ich weiss zum Beispiel von einigen Personen, die vorher viel Zeit mit Gamen oder Netflix verbracht haben und durch Social Media mit dem «Outdoorvirus» angesteckt wurden. Früher waren es die Eltern, die einen zum Wandern animieren wollten. Bei mir war es mein Mami, und ich fand die ewigen Wanderungen eher langweilig. Heute begeistern Wandern, Campen und die Abenteuer, die man so erleben kann, auch jüngere Generationen.

Marco: Ich denke, nur die Eintrittstüre ist eine andere. Ich stelle nicht fest, dass es heute mehr Junge gibt in den Bergen als früher.

Wo seht ihr denn sonst Vorteile der Digitalisierung?

Marco: Dass Karten online gratis verfügbar sind, ist schon mal ein sozialer Fortschritt, denn nicht alle können sich einen Satz Karten und Führer leisten. Das hat auch Einfluss auf die Sicherheit: Die online-Karten sind aktuell, früher sind die Leute oft mit 20 bis 30 Jahre alten Karten herumgelaufen.

Julia: Für mich ist einer der grössten Vorteile, dass man sich einfacher mit Gleichgesinnten vernetzen und Leute kennenlernen kann, die dieselbe Passion teilen.

Also seht ihr kaum kritische Punkte in der Digitalisierung?

Marco: Die Infos in einem Buch sind gut kuratiert und es gibt neben dem Autor noch einen Verlag, der bürgt. Im Internet findet man zum Beispiel Zeitangaben zwischen drei und zwölf Stunden für die gleiche Tour. Bei einem Buch weiss man zudem klar, wie alt es ist, während das Internet Aktualität vorgaukelt, die nicht immer gegeben ist. Es hat viel Schrott im Netz.

Julia: Eine Gefahr der Digitalisierung ist, dass die Wichtigkeit der realen Erfahrung unterschätzt wird. Bei Skitouren zum Beispiel musst du einfach viel gehen, um zu lernen, Situationen und den Schnee richtig zu beurteilen. Das kann nie vollständig durch ein Online-Assessment der Gefahr oder andere Tools ersetzt werden.

Wir denken darüber nach, unsere Wildnis-Karte der Schweiz digital breit zugänglich zu machen. Seht ihr hier Risiken?

Julia: Es kommt drauf an, wo die Orte liegen. Je anstrengender es ist hinzukommen, desto weniger Leute nehmen den Weg auf sich. Ansonsten sähe ich durchaus ein Gefahrenpotenzial – nach dem Motto: «Geil, da ist es wild, da will ich hin». Es ist aber natürlich auch eine Frage der Kommunikation: Wie wird das Thema dargestellt und wie viele Menschen hören überhaupt davon.

Marco: Für mich ist die Publikation der Wildnis-Karte kein Risiko, weil sie keine Geheimnisse enthält. Die Resultate sind ziemlich erwartbar. Die Karte könnte mithelfen, die Diskussion in der Öffentlichkeit zu fördern.

Julia: Für Leute, die sich noch nicht so mit dem Thema auseinandergesetzt haben wie du, Marco, birgt die Karte schon Neues. Diese denken nicht in Wildnis-Kategorien.

Zurzeit beschäftigen uns die digitalen Gipfelbücher. Wir finden diese heikel, insbesondere der Fall der Graubündner Kantonalbank (GKB), die anlässlich ihres 150. Jubiläums auf ebenso vielen Berggipfeln im Bündnerland Metallstelen installiert hat. Zum Teil auf wilden Gipfeln. Wie beurteilt ihr das?

Marco: Es gibt eine ganze Reihe von Möblierung in den Alpen. Einige davon, wie Gipfelkreuze und Gebetsfahnen, haben eine kulturelle Tradition und sind den Menschen wichtig. Wenn es um rein kommerzielle Interessen geht wie im Falle der GKB, bin ich nicht zimperlich: Wenn ich auf einem Gipfel etwas finde, das dort nicht hingehört, nehme ich das mit und entsorge es im Tal. Vollständig digitale Gipfelbücher, ohne Installation vor Ort, finde ich eine gute Sache.

Julia: Ich sehe das ähnlich. Für Werbezwecke befürworte ich das nicht. Ausserdem brauchen die digitalen Gipfelbücher auch Ressourcen und Speicherplatz, das muss man bedenken. Es laden dann sicher viele noch zusätzlich zig Fotos hoch, anstatt in einem Buch in einer kleinen Ecke seinen Namen einzutragen.  Mir gefallen ausserdem die alten klassischen Gipfelbücher. Ein Eintrag ist für mich eine Tradition, und ich finde es auch einfach schön, darin zu lesen.

Julia Wunsch – Die Digitale Julia wurde in den 80ern in Köln geboren und ist seit 2007 in der Schweiz zuhause. Ihre grössten Passionen sind Fotografie und Storytelling. Sie ist begeistert von Geschichten und Erlebnissen rund um «the outdoors» und auch von der Frage, wie das Leben nachhaltiger und umweltverträglicher gestaltet werden kann. Seit dem Ende ihres Studiums an der Universität Zürich ist Julia im Bereich Social Media Marketing tätig. Sie ist Mitgründerin der Swiss Mountain Girls und Teilzeit-Selbstständige im Bereich Social Media Consulting & Content Creation. juliawunsch.chMarco Volken – Der Analoge Marco ist 1965 als Oberwalliser in Mailand geboren, im Tessin aufgewachsen und lebt heute in Zürich. Er ist freier Fotograf und Autor mit Schwerpunkt Landschaft, Natur und Bergsport. Meist ist er in den Alpen anzutreffen, in der Schweiz und in angrenzenden Bergregionen. Marco gehörte vor bald 30 Jahren zu den Gründungsmitgliedern von Mountain Wilderness Schweiz. Er hat zahlreiche Bildbände, Führer und Sachbücher verfasst. In seinem neusten Buch «Urtümliche Bergtäler der Schweiz» porträtiert er Bergtäler, die reich an Natur- und Kulturschätzen sind. marcovolken.ch

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