Search
Close this search box.

Aus einem alpinen Freiraum würde eine Industriezone

Das freistehende Solarkraftwerk «Gondosolar» würde eine heute unerschlossene ehemalige Alpfläche zerstören. Mountain Wilderness Schweiz hat im Rahmen des «Feuers in den Alpen» am 13. August dagegen demonstriert. Die Schweiz soll die Energiewende im bebauten Gebiet vollziehen – und Energie einsparen!

Das Absperrband gehört einfach nicht hierhin! Es stört meinen Blick, der über die Grasbüschel schweift, über die Schlafsäcke unseres «Protestcamps» weiter unten, wie es die Medien betitelt haben. Über allem thronen Weissmies, Lagginhorn und Fletschhorn. Sie allein sollten Grund genug sein, dieses Gebiet nicht zu zerstören. Ich bin auf Alpjerung ob Gondo. Wir haben hier gestern im Rahmen des «Feuers in den Alpen» gegen den alpinen Solarpark «Gondosolar» demonstriert. Das Absperrband hatten wir aufgezogen, um zu zeigen: hier ist eine Grossbaustelle geplant! Und dieses Absperrband ist nur ein Vorgeschmack: Unvorstellbar, dass gemäss Plänen der Initianten schon bald 200 Reihen mit 4’500 Solar-Elementen aus dieser rauen, abgelegenen Landschaft eine Industriezone machen könnten.

Von der kleinstrukturierten ehemaligen Alp zur Solarfarm

Das Gelände ist anders, als es sich die meisten aus der Gruppe vorgestellt haben: Es ist weitläufig, nicht einfach ein flacher Hang. Die vielen Mulden und Kuppen, Baumrotten und Felspartien bieten eine Diversität an Lebensräumen. Ruinen von Alpgebäuden ragen allenthalben aus dem gelblichen Gras und erinnern an die längst vergangene Zeit, als Alpjerung noch intensiv alpwirtschaftlich genutzt worden ist. «Gondosolar» würde ein völlig falsches Zeichen setzen. Welche Alpgenossenschaft würde nicht auch gerne eine abgelegene Alp vergolden wollen, sollte «Gondosolar» umgesetzt werden? Es wäre ein Geschäftsmodell, das auf der Ausbeutung der letzten unerschlossenen Räume der Schweiz beruhen würde. Weniger nachhaltig geht es kaum. Wir brauchen diese Räume: Als Rückzugsgebiete für Flora und Fauna und als Erfahrungsräume für uns Menschen.

Eine Nacht verbringen heisst intensiv eintauchen

Unten erwacht das «Protestcamp» langsam. Es ist eine buntgemischte Gruppe. Da ist ein Paar aus Frankreich, das während dreier Monate die Via Alpina erwandert und dabei auf die Bedeutung von Nachhaltigkeit in den Alpen hinweist. Eine Frau mittleren Alters, die sich beruflich mit der Energiewende beschäftigt, hat ohne mit den Wimpern zu zucken die Nacht an der frischen Luft verbracht. Am Morgen sind unsere Schlafsäcke vom Tau durchfeuchtet. Es erklingen Wortfetzen auf Italienisch, Französisch, Englisch und Deutsch. Uns alle vereint ein Sinn für Nachhaltigkeit und die Liebe zu Bergen, Natur und Landschaft. Als wir gestern daran waren, das Abendessen zuzubereiten, zog die Älplerin von der Alpe Vallescia mit einer Kratte voll mühselig gesammelten Holzes und ein paar Kühen an uns vorbei. Ihre Alp liegt in Italien, gleich ennet der Grenze. Wie es für sie wohl sein würde, wenn sie dereinst durch einen Solar-Wald zöge, um Feuerholz zu sammeln? An einem Ort zu biwakieren, baut eine andere Beziehung zu ihm auf. Wir haben gesehen, wie der praktisch noch volle Mond orange aufgegangen ist. Einigen waren ein paar Sternschnuppen vergönnt. Wir haben wahrgenommen, wie ruhig und ursprünglich es hier oben ist.

Begegnung mit Parlamentarierinnen, die sich vor Ort informieren

Am Tag zuvor war es noch anders gewesen. Als wir mit unserer rund zwanzigköpfigen Gruppe die selten begangene Alpjerung erreicht hatten, trafen wir auf Renato Jordan, den Initianten des Projekts und Besitzer von Alpjerung. Er führte gerade eine Gruppe von SP-Nationalrätinnen und -Nationalräten über das Gelände. Roger Nordmann stürmte direkt auf Maren Kern, die Geschäftsleiterin von Mountain Wilderness Schweiz, zu. Als Mitglied sei er enttäuscht, dass wir uns gegen dieses in seinen Augen zukunftsfähige Projekt auflehnten. Es entspannte sich ein spannendes Gespräch mit der Gruppe. Renato Jordan fragte, ob wir nicht ein gestricktes Absperrband hätten nehmen sollen und wie wir die Baustellenlampen aufgeladen hätten. Die anwesenden Nationalrätinnen Ursula Schneider-Schüttel (Pro Natura) und Martina Munz (AquaViva) vertreten wichtige Umweltorganisationen. Beiden ist anzuspüren, dass für sie ein Entscheid bezüglich «Gondosolar» nicht einfach ist.

Ein Grossteil der Lösung liegt im bereits bebauten Gebiet

Niemand von ihnen zweifelt am Wert dieses Gebiets. Doch eine Frage beschäftigt sie, und auch viele aus unserer Gruppe: Wie schaffen wir es, nicht in eine Energie-Mangellage im Winter zu laufen? Das grosse Argument für «Gondosolar» ist, dass die Anlage im Winter mehr Strom produzieren würde als im Sommer. Dann, wenn im Mittelland der Nebel und die schwache Sonneneinstrahlung die Stromproduktion drosseln. Diese Frage ist verständlich und berechtigt. Um sie zu beantworten, braucht es zwei Ansätze: 1. Den Grundbedarf an Strom können wir mit Photovoltaik-Anlagen (PVA) auf unproblematischen Flächen wie Hausdächern oder Autobahnen decken. Studien beweisen das riesige Potenzial. Auch im alpinen Gebiet gibt es grosses Potenzial für PVA in bereits erschlossenen Gebieten zur Produktion von Winterstrom, zum Beispiel auf Tourismus-Resorts oder bei Skianlagen. Dazu brauchen wir auch geeignete Speicherkapazitäten. 2. Unser Energiehunger ist unermesslich! So wie wir einem adipösen Menschen nicht raten würden, seine Lebensmittel einfach durch andere, gesündere in der gleichen Menge zu ersetzen, sondern gleichzeitig weniger zu essen, müssen auch wir weniger Energie brauchen. Zur Frage, wie wir dies schaffen, braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, der uns hilft, zwischen «notwendigem» und «luxuriösem» Konsum zu unterscheiden. Die Lösungen müssen angepasst an die jeweiligen Verhältnisse sein: Im ländlichen Gebiet macht vielleicht ein Elektroauto Sinn, in der Stadt dafür ein breiteres kulturelles Angebot, welches wiederum Energie braucht.

Unerschlossen und unsichtbar

Unsere Gruppe löst sich an diesem Sonntagmorgen langsam auf. Einige nehmen den Schmugglerpfad Richtung Italien, andere werden noch bis zum Simplon Hospiz wandern. Nach Alpjerung kommt man nur zu Fuss: entweder von der italienischen Seite oder, wie wir es am Samstag gemacht haben, vom Weiler Alpje her. Wer hier hin möchte, wandert mindestens eineinhalb Stunden. Es ist leicht, sich auf einem der Trampelpfade zu verlaufen. Breite Strässchen gibt es nirgends. Werden sich hier bald Arbeiterinnen und Arbeiter auf Quads für den Unterhalt des Solarparks auf schmalen Wanderwegen raufpflügen, wie uns ein Unterstützer des Projekts erklärt, der mit uns mitgewandert ist? Wir folgen zuerst dem sogenannten Römerweg, einem historischen Verkehrsweg von nationaler Bedeutung, um dann den stotzigen Weg nach Gondo hinunter zu nehmen. Plötzlich stehen wir wie angewurzelt da: Wir haben eine Gämse und ihr Junges gleich neben dem Wanderweg aufgeschreckt. Sie hatten sich in einer kleinen Höhle versteckt. Die Mutter flüchtet, das Kitz rennt zuerst in unsere Richtung. Auf einem Felsblock stehend, schauen sich alle kurz voller Spannung an; dann rennt das Kitz seiner Mutter nach und verschwindet im Wald. Wir vergessen vor lauter Plänen, Berechnungen und Visualisierungen zu schnell, dass wir uns in einem Lebensraum mit seinen eigenen Gesetzen bewegen. Die Folgen von «Gondosolar» für dieses Gebiet lassen sich heute nur schwer abschätzen. Es gibt bisher keine Erfahrungen mit vergleichbaren freistehenden PVA – weder in diesen Dimensionen noch in dieser Höhe. Hoffen wir, dass dieser Freiraum noch lange seine Ruhe wird behalten können!

Mehr Informationen zum Projekt.

Diesen Beitrag teilen
Facebook
Twitter
LinkedIn
Mehr News