Die Val Müstair wird oft als wild und naturnah beschrieben. Wir prüfen diese These anhand eines fiktiven Gesprächs, das sich auf reale Gegebenheiten stützt: unsere Wildnis-Karte, Beobachtungen vor Ort und den Wildnis-Diskussionsabend vom 13. August 2019 mit Menschen aus der Val Müstair.
«Hey, erzähl mal: Wie wild ist die Val Müstair wirklich?», fragt ein Kollege, nachdem ich nach knapp drei Wochen im Münstertal wieder vom Pop-up-Büro heimgekehrt bin. «Hmmm…» antworte ich und überlege. Ob er sich noch erinnern könne, was er mir nach seiner Rückkehr aus Indien erzählt habe, frage ich ihn. «Ja, klar», gibt er zur Antwort. Er hat damals erzählt, wie er in Indien gemerkt habe, wie man sich im Leben auf die positiven oder die negativen Dinge fokussieren könne: Viele berichten nach einer Indienreise vom beissenden Müllgeruch, von den Ungerechtigkeiten, von Armut und vergessen dabei den süssen Duft der Mangos, die fantastische Artenvielfalt oder die vielen zukunftsgerichteten Initiativen.
Val Müstair: Mittelland oder Kanada?
In der Val Müstair verstand ich, was er damit gemeint hat: Ich kann meinen Blick auf ein Einfamilienhaus im Talgrund fokussieren, von fetter Wiese umgeben, von lauten Töffs und rücksichtslosen Autos umkurvt. Blubbernd steigt ein Gedanke empor: «Mittelland!» Hier unterscheidet sich die Val Müstair oft nur wenig von den Orten meiner Kindheit. Fokussiere ich den Blick jedoch gen Piz Lad und Piz Turettas, den strammen Wächtern der Val Vau, der Pforte zur Val Mora, dann zieht ein Gedanke innerlich vorbei, der Wohlbehagen bereitet: «Kanada!» Von weitem sind die menschlichen Spuren in diesem Gebiet kaum auszumachen. Die Nadelbäume stehen eng zusammen und kriechen beharrlich die Hänge hoch, wo sie der Steinschlag nicht wieder zu Tale jagt. In diesem Moment spielt die Forststrasse, die sich die Val Mora hochzwängt, keine Rolle.
Keine Hochspannungsleitungen im Tal
Es scheint jedoch nicht verwegen zu sagen: Die Münstertalerinnen und Münstertaler haben meist Sorge getragen zu ihrer Umgebung. Es gibt im ganzen Tal nur ein Skigebiet – Minschuns mit vier Schleppliften. Mit dem Projekt «La Sassa» soll das Skigebiet um ein Resort samt Zubringergondel ergänzt werden. Mountain Wilderness Schweiz hat sich bereits kritisch gegenüber dem Projekt geäussert. Ansonsten gibt es im Tal keine Seilbahnen; für jemanden aus der Zentralschweiz ein ganz und gar ungewohntes Bild. Ungewohnt ist auch die freie Sicht: Der Strom fliesst im Boden, es gibt in der Val Müstair keine Hochspannungsleitungen. Und ebenfalls ungewohnt: Die Nadelbäume stehen dicht an dicht bis weit zum Talboden hinunter – auch dies sorgt für die naturnahe Erscheinung des Tals. Wegen der ungünstigen Geologie ist die Val Müstair stark Steinschlag gefährdet. Die Wälder dienen unter anderem zum Schutz vor Naturgefahren. Eine prächtige, kleine Wildnis ist der Rom, einer der letzten unverbauten Talflüsse der Schweiz. Das ist kein grossflächiges Wildnisgebiet, doch die Auen des Roms machen einem eindrücklich die Kraft der Natur bewusst; der silbergrüne Gürtel der Erlen an seinen Ufern ist von Valchava bis kurz vor Müstair besonders malerisch.
Wilder Bruder im Nordwesten
Interessant ist auch die Wirkung des Nationalparks als direkten Nachbarn der Val Müstair im Nordwesten. Ich bin während der Zeit des Pop-up-Büros mehrere Male über den Ofenpass gefahren – der Nationalpark, insbesondere auch im Vergleich zur Val Müstair – hat jedes Mal wieder anders gewirkt. Besonders wild ist mir der Nationalpark vorgekommen, als ich eine Woche durchgehend in der Val Müstair gewesen bin und hier vor allem auf dem Talboden. Auf den rund 170 Quadratkilometern des Schweizerischen Nationalparks herrscht praktisch Prozessschutz: Das Nationalpark-Team greift nur in seltenen Fällen in die Naturdynamik ein, z.B. bei Waldbränden. Ansonsten kann sich die Natur im strengst geschützten und grössten Wildnisgebiet der Schweiz frei entwickeln. Eindrücklich zeigt sich im Nationalpark, wie anspruchsvoll es ist, die Rolle des Menschen in der Wildnis zu finden. Wie viel Mensch ertragt es in der Wildnis? Klar, wir nehmen allein schon mit unserer Präsenz Einfluss auf die Wildtiere. Gleichzeitig sind wir Teil der Natur und agieren seit Jahrtausenden mit ihr. Der Nationalpark ist ein faszinierendes Gebiet. Mich lässt der Gedanke nicht los: Wäre eine Art Paläo-Wildnis nicht interessant? Ein Gebiet, das zwar wie der Nationalpark Prozessschutz auf grosser Fläche bietet, in dem der Mensch aber als rücksichtsvoller Gast willkommen ist – in seinen Mitteln aufs Nötigste beschränkt. Dafür wären auch die Einschränkungen aufs Nötigste beschränkt.
Die hohen Gipfel sind besonders wild
Ob ich einen Anhaltspunkt habe, wie wild die Val Müstair im Vergleich mit anderen Gebieten der Schweiz sei, fragt mein Kollege. Ich nehme die Wildnis-Studie hervor, die Mountain Wilderness Schweiz Anfang 2019 publiziert hat. Wir blättern um bis zur Karte, die die Wildnisqualität der Schweiz anhand der vier Kriterien «Natürlichkeit», «Menschliche Einflüsse», «Abgeschiedenheit» und «Rauheit der Topographie» darstellt. Ein Blick auf die Karte zeigt: Die Talsohle der Val Müstair hat eine relativ geringe Wildnisqualität. Hier reihen sich die Dörfer Tschierv, Fuldera, Valchava, Sta. Maria und Müstair entlang der Kantonsstrasse auf. Hier wird zwar zu 80 Prozent biologische Landwirtschaft betrieben, diese nutzt den Boden dennoch relativ intensiv. Ebenfalls nur mittlere Werte für die Wildnisqualität bekommt der Talboden der Val Mora, weil hier eine Forststrasse durchführt und Alpwirtschaft betrieben wird. Demgegenüber ist die Wildnisqualität insbesondere um Piz Daint und Piz Turettas und südlich der Mora-Forststrasse hoch. Das heisst, diese Gebiete sind naturnah, abgeschieden, unterliegen wenigen menschlichen Einflüsse und liegen in rauem Terrain.
Kaum Unterschied zu anderen Bergregionen
Diese Verteilung der Wildnisqualität ist typisch für das gesamte Berggebiet der Schweiz: Meist intensiv genutzter Talboden, oft mit Gewerberäumen, Landwirtschaft, touristischer Infrastruktur und dann mit zunehmender Steilheit der Berge hohe Wildnisqualität, wo sie nicht Skigebiete oder andere touristische Infrastruktur beeinträchtigen. Etwas erstaunlich ist, dass die Wildnisqualität des Gebirges in der Val Müstair nicht höher ist als im benachbarten Engadin, wo der Tourismus meist intensiver ist. Ein Grund dafür mag unter anderem sein, dass die im Süden an die Val Müstair grenzenden italienischen Berge auf der Wildnis-Karte nicht abgebildet sind – sie sind meist auch kaum erschlossen. Mein Kollege ist etwas enttäuscht: «Laut dieser Karte ist die Val Müstair gar nicht so wild, oder auf jeden Fall nicht wilder als die meisten anderen Bündner Bergtäler», sagt er entgeistert. Der Vergleich zwischen der Wildnis-Karte, welche die Schweiz in Kästchen von 100 mal 100 Metern Grösse einteilt und jedem Kästchen einen Wert für Wildnisqualität von 1 bis 20 gibt und der eigenen Empfindung ist spannend. Auch auf mich macht die Val Müstair einen wilderen Eindruck als andere Berggegenden – und gleichzeitig ist die Belastung durch die Strasse viel höher als in einem Tal, das für den Verkehr eine Sackgasse bildet. Keine der beiden hat in diesem Sinne Recht oder Unrecht.
Interessant ist, dass sich die Wildnisqualität in der Val Müstair in den letzten Jahrzehnten nicht merklich verändert zu haben scheint. Laut der Extensivierungskarte aus der Wildnis-Studie hat sich die Landnutzung in der Val Müstair zwischen 1985 und 2009 weder merklich intensiviert noch extensiviert. Auf dieser Karte drücken sich Abwanderung und wirtschaftliche Herausforderung nicht messbar ab. «Es wäre interessant, diese Karte mit Menschen zu überprüfen, welche diesen Zeitraum miterlebt haben», sagt mein Kollege.
Wahrnehmung der Münstertalerinnen und Münstertaler
Mountain Wilderness Schweiz wollte wissen, wie Menschen, die in der Val Müstair leben, Wildnis wahrnehmen. Am 13. August 2019 haben wir dazu mit Münstertalerinnen und Münstertalern aus Naturschutz, Wald, Gemeinde, Landwirtschaft, Jagd und anderen Bereichen darüber diskutiert, was für sie Wildnis ist, wo es diese noch gibt und wie es um Wildnis steht. Die Diskussionen haben sehr interessante Erkenntnisse zu Tage gebracht. Hier ein persönliche Zusammenfassung:
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Keine der Gruppen sah Wildnis in der Val Müstair wirklich in Gefahr. Im Gegenteil, die Landwirtschaft gehe eher sogar zurück. Als grösste mögliche Beeinträchtigung für Wildnis wird der Tourismus gesehen, hier insbesondere das Mountainbiken. Das fällt auch in anderen Gesprächen auf: Ob mit dem älteren Wanderer im Bus, mit der sportlichen Bikerin um die 50 – sehr schnell dreht sich das Gespräch ums Mountainbiken. Wie die Val Müstair damit umgeht, zeigt Tim Marklowski im Artikel zum Thema eindrücklich auf. Aus Wildnis-Sicht bedeutend ist die Frage, ob mit Mountainbikes und insbesondere den E-Mountainbikes der Druck auf die abgelegenen, ruhigen und einsamen Ecken der Val Müstair zunehmen wird. Und: Wie sich die touristische Infrastruktur weiterentwickeln wird. Jeder Eingriff schmälert die Wildnisqualität und drängt die letzten naturnahen Räume weiter zurück.
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Beim Verständnis, was Wildnis ist, hat sich in den Gesprächen eine breite Palette aufgetan. Vom nur teilweise gepflegten Garten über landwirtschaftlich genutzte Flächen bis hin zur Natur, die berührt, waren die Definitionen von Wildnis sehr breit. Einig schienen sich jedoch alle in dem Punkt, dass Wildnis nur ohne Infrastruktur möglich ist.
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Die Bewohnenden der Val Müstair scheinen Wildnis im Grundsatz positiv gegenüber zu stehen. Verschiedene Gruppen haben während des Wildnis-Abends erzählt, dass sie tagtäglich mit Wildnis konfrontiert sind. Oder wie es jemand besonders bildhaft beschrieben hat: «Leben im Tal ist Leben am Rand der Wildnis: Bär oder Wolf – irgendwer ist immer da.» Für einige Gruppen scheint diese Wildnis jedoch nur so lange tolerierbar, wie auch die Mittel zum Umgang mit Wildnis zur Verfügung stehen: Die Möglichkeit, im äussersten Fall Grossraubtiere mit dem Gewehr zu kontrollieren und den Bach mit dem Bagger.
Mein Kollege gähnt. Er habe es schon verstanden: Wie wild die Val Müstair ist, sei eine Frage der Perspektive. Insgesamt schiene ihm das Tal aber tatsächlich sehr naturnah zu sein. «Und was wünschst du dir nun für das Münstertal?», fragt er mich müde. Dieses Mal zögere ich nicht: «Ich wünsche mir, dass die Menschen in der Val Müstair weiterhin Sorge zu ihrer Landschaft tragen, dass sie im Bewusstsein behalten, welchen Wert die naturnahen, unverbauten Räume haben; wie viel Wert Wildnis hat. Denn: Sie haben hier einen Schatz gehütet, den es gerade in Mitteleuropa nur noch selten zu bestaunen gibt. Und dieser Schatz hat sowohl einen Wert an sich als auch einen touristischen Wert. Menschen wie wir kommen gerade deswegen in die Val Müstair und helfen so auch wieder mit, dass hier Menschen leben können.»