Das Team von Mountain Wilderness Schweiz machte sich auf den Weg in die Val Müstair, in den südöstlichsten Zipfel der Schweiz in ein «Pop-up Büro». Die Idee dahinter war ebenso eigennützig wie strategisch: Wir lieben die Berge und wollen ihnen nah sein. Wir wollen die aktuellen Entwicklungen in den Bergen vor Ort inspizieren. Wir treten in Kontakt mit den Ansässigen und geben den diffusen Alpenschützern, den «Grünen», die hier vor allem im Zusammenhang mit Einsprachen gegen Bauprojekte aufs Tapet treten, ein Gesicht. «Ihr seid ja ganz sympathisch», äusserten sich einige überrascht. Während einer Exkursion in die Auen von nationaler Bedeutung des Rombaches, eines Wildnis-Diskussionsabends, eines Mountainbike-Workshops und vieler Gespräche mit Talbewohnenden und Externen haben wir einige bleibende Eindrücke gesammelt.
Der Umgang mit Naturdynamik ist immer ein Kompromiss
Steinschläge und Murgänge begleiten die Münstertaler seit der Besiedlung. Als natürlichen Schutz hat das Tal bis heute eine relativ geschlossene Bewaldung, was ihm einen wilden Charakter verleiht. Die für die Landwirtschaft genutzte Fläche ist im Vergleich zu anderen Tälern eher klein. Aus Angst vor negativen Auswirkungen auf die Waldverjüngung wurde die Beweidung mit Wandergeissen eingestellt. Auf unserer Wildnis-Karte ist es noch nicht auszumachen, aber der Wald nimmt tendenziell zu. Das Gesteinsmaterial, das die Berge abgeben, landet heute in den technischen Verbauungen oder im Flussdelta des Talbaches Rom. Den Abraum zu deponieren, ist ein Problem in der Kulturlandschaft der schmalen Talsohle. Leben im Tal ist Leben am Rand der Wildnis, die sich in ganz verschiedenen Formen zeigt. Oder wie es ein Teilnehmer an unserem Wildnis-Abend in der Val Müstair ausgedrückt hat: «Bär oder Wolf – irgendwer ist immer da.» Die Münstertalerinnen und Münstertaler haben gelernt, sich mit den Ausprägungen von Wildnis zu arrangieren. Als zum Beispiel die ersten Bären durch die Lande zogen, wurden bärensichere Abfalleimer aufgestellt.
Unser Fazit: Naturdynamik ist Teil des Alltags. Solange man den Menschen die Möglichkeit, mit den Ausprägungen von Wildnis auf ihre Art und Weise umzugehen, stehen sie Wildnis positiv gegenüber.
Infrastrukturtourismus als Heilmittel für Verlustängste
Am Wildnis-Diskussionsabend sehen lokale Akteurinnen und Akteure den Tourismus als grösste Beeinträchtigung für die intakte Naturlandschaft. Gleichzeitig wird als grösste Gefahr für die Wildnis in der Val Müstair die Abwanderung genannt. Selbst ein Naturfreund wird allenfalls einem nicht ganz umweltfreundlichen Projekt zustimmen, wenn er darin die Chance sieht, dass seine Kinder und Enkelkinder im geliebten Tal und in seiner Nähe wohnen bleiben. Gegen diesen stark emotionalen Zugang haben rationale Argumente keine Chance. Die SAC-Hütte auf der Alp Sprella oder das Resort und Seilbahnprojekt «La Sassa-Minschuns» sind für viele der logische weitere Entwicklungsschritt. Uns werden viele mögliche Alltagsszenarien geschildert, wie es dann sein wird, wenn die Projekte realisiert wurden.
Unser Fazit: Die Angst vor einem Lichterlöschen in der Val Müstair ist gross. Um dies zu verhindern, begrüssen viele auch Projekte des Infrastrukturtourismus. Wir wollen weiter an nachhaltigen Alternativen dazu mitarbeiten, damit sie zu Erfolgsgeschichten und Teil des Erbes werden.
Respekt ist die Basis für ein konstruktives Miteinander
Eher neue Erscheinungen, die der Sommer-Tourismus mit sich bringt, finden nicht nur Zustimmung. Wir haben das Mountainbiken an einem Workshop unter anderem wegen der guten Zusammenarbeit zwischen Forst und Bike-Vertretern sehr positiv kennengelernt. Ein Konzept für Bike- und Wanderwege soll sogar dafür sorgen, dass ganze Geländekammern wieder der Natur zurückgegeben werden; indem nämlich kaum mehr genutzte Wege aufgelassen oder zurückgebaut werden und das kleiner gewordene Wegnetz intensiver unterhalten werden kann. Es gibt Menschen im Tal, die Mountainbiken als eine nicht respektvolle Fortbewegungsart oder gar Schändung der Berge sehen.
Unser Fazit: Der Umgang mit Outdoorsportarten und die Koordination der Akteure ist in der Val Müstair vorbildlich. Wir wollen weiter dazu beitragen, dass Mountainbikende und andere Natursporttreibende einen respektvollen Umgang mit Mensch und Natur hochhalten.
Lebens- und Arbeitswelt temporär verschieben
Das Büro nach Müstair zu verlegen und als Team die Chasa Parli als Wohngemeinschaft zu bewohnen, hat einiges an Koordinationsaufwand erfordert und barg auch Risiken. Nach Abstimmungsresultaten zu urteilen, ist eine grosse Mehrheit der Bevölkerung der Val Müstair für das Projekt La Sassa-Minschuns, wogegen wir uns aus Gründen der unzureichenden Umweltverträglichkeit auf juristischem Weg gewehrt haben. Trotzdem hat der Gemeindevorstand unser Projekt offiziell bewilligt. «Wir waren beide mutig», war der Kommentar des Gemeindepräsidenten bei einem Besuch im Pop-up-Büro.
Unser Fazit: Für uns war die Zeit professionell und als Team in vielen Hinsichten ein Gewinn. Wir haben die Menschen hinter den Projekten und ihre Sicht kennengelernt, die wir respektieren, auch wenn wir anderer Meinung sind. Wir haben ein klein wenig verstehen gelernt, was es bedeutet, in direkter Nachbarschaft zur Wildnis zu leben.